Vor Gerlinde Merls Werk „Die Klavierspielerin“ sind bei der Nadelwelt viele Besucherinnen stehen geblieben. Es war sicher das meist fotografierte Kunstwerk auf der Messe. Es nimmt Bezug auf einen Roman der österreichischen Schriftstellerin Elfriede Jelinek.
Ich habe die Künstlerin interviewt.
Wo sind Sie aufgewachsen und wo leben Sie heute?
In Lindham „mein persönliches Bullerbü“ wuchs ich auf. Es ist ein kleines Dorf in der Nähe von Linz mit einigen Bauernhäusern, schönen großen Vierkantern. In einem dieser Höfe wuchs ich auf, in einer Welt ohne krankmachende Normen, Regeln und Gesetze, einer nicht vorfabrizierten Welt, die ich mit allen Sinnen erfuhr, ohne Wettbewerb und Leistung. Durch diese Tatsache blieb ich neugierig. Meinen schöpferischen Kräften liegen meine Kindheitserinnerungen zugrunde. Mit Langeweile musste ich mich selbst auseinandersetzen. Ich weiß, dass mein freies Aufwachsen dem Gedeihen von Kunst sehr förderlich war.
Wann sind Sie erstmals mit textilen Arbeiten in Berührung gekommen?
Ein Maler würde sagen, er habe immer schon gemalt. Ich würde von mir sagen: Ich habe immer genäht. Mit sechs Jahren nähte ich bereits Puppenkleider – mit der Hand und mit der Nähmaschine. Mit 13 Jahren entstand meine erste Patchworkdecke aus Kinderkleidern. In meiner Schulzeit nähte ich zuhause die Nähprojekte meiner Mitschülerinnen fertig. Und seit meiner Jugend bin ich es gewöhnt, den Großteil meiner Kleidung selber zu nähen.
Haben Sie eine textile Ausbildung?
Ich habe eine Fachschule für wirtschaftliche Frauenberufe besucht, anschließend als Externistin die Höhere Bundeslehranstalt für Kunstgewerbe. 2017 schloss ich mein Studium der Kunsttherapie und Pädagogik ab mit der ersten Diplomarbeit Österreichs zum Thema: Kunsttherapie mit textilen Medien.
Was reizt Sie an Textilkunst als Kunstform?
Die Textilkunst ist eine Nische. Da ich von klein auf mit Textilem in Berührung gekommen bin, ist es mir sehr vertraut. Stoff berührt man gerne, Stoff hat Appellcharakter. Experimentieren mit der Nähmaschine macht mir große Freude und gibt mir Erfüllung.
Welche Techniken verwenden Sie?
Viele Techniken habe ich bei Ausstellungen gesehen und dann weiterentwickelt: z.B. die Freischneidetechnik, Textil Jazz, Friedensreich Hundertwasser textil interpretiert, Smoken, Arbeiten mit dem wasserlöslichen Vlies…
Welches ist Ihr bevorzugtes Material und wie verarbeiten Sie es am liebsten?
Am liebsten arbeite ich mit meinen handgefärbten Stoffen. In meiner Heimat – dem Mühlviertel – gibt es Webereien. Von dort beziehe ich den Großteil meiner Stoffe und färbe sie anschließend ein. Für mich ist Stoff immer ein Geschichtenerzähler. Und um ihn gut zu verstehen, hilft es ungemein, dass man ihn im wahrsten Sinne des Wortes be-greifen kann.
Ebenso verwende ich hochwertige Damaststoffe bzw. verschiedene Seidenstoffe. Diese stammen oft von meinen Reisen in den Nahen oder Fernen Osten und erzählen somit ganz besondere Geschichten von fernen Ländern, Kulturen und Verarbeitungstechniken. Einen Stoff zu berühren, ist eine besondere Sinneserfahrung, das Material ist kostbar, es hat haptische Qualitäten, die kein anderes Material aufweist. Stoff besitzt Appellcharakter, lädt ein zum Berühren, Fühlen, Tasten und Begreifen.
Könnten Sie die Entstehung eines Werks von der Idee bis zur Fertigstellung beschreiben?
Gerne rede ich über die Entstehung der Klavierspielerin. Es handelt sich dabei um das Werk, das bei der Nadelwelt in Karlsruhe sowie im vergangenen Jahr bei der Patchworkmesse in Brünn am meisten fotografiert wurde. Die Klavierspielerin ist ein Roman der österreichischen Autorin Elfriede Jelinek, zugleich einer der meistdiskutierten deutschsprachigen Romane der letzten Zeit.
Wenn Sie das Bild betrachten, so sieht man ganz deutlich auf der linken Seite den Umriss des Kopfes in gelb/orange, den Körper in rot, das Klavier in blau, der Hintergrund ist in Grüntönen gehalten.
Mich fasziniert das Soluvlies (wasserlösliches Vlies), da es sehr vielseitig einsetzbar ist. Ich zähle es zu meinem Hauptwerkzeug. Dazu fertige ich ein „Soluvlies-Stoff-Soluvlies-Sandwich“ an, steppe es waagrecht und senkrecht ab und wasche zum Schluss das Soluvlies heraus.
Sie haben ein Galeriebuch mit dem Titel „Ich nehme einen Faden und gehe mit ihm spazieren“ herausgebracht. Erzählen Sie uns darüber.
Mein Galeriebuch lädt auf einen abwechslungsreichen Spaziergang durch die vielfältigen Werke ein und versorgt Textilbegeisterte mit Anleitungen zum Nachmachen. Ich lebe meine Kunst auch im Alltag: beim »Spiralenlauf« im Schnee, als Modedesignerin und Schneiderin meiner eigenen Kleidung oder als »Landschaftsarchitektin«, wenn ich beispielsweise in der Natur einen Baumstamm umhülle.
Im Anschluss an den Galerieteil lasse ich mir gerne auf die Finger schauen: Schritt für Schritt kommen Sie dort durch Anleitungstexte und -bilder hinter die Geheimnisse faszinierender Strukturen. Sie werden dadurch Ihren Haushalt neu betrachten lernen, denn ich zeige Ihnen, welche Gegenstände durch die »Verpackungstechnik« grandiose dreidimensionale Strukturen in Textilien zaubern können. Und Sie werden feststellen, dass sich hinter dem »Stacheltube« kein Meerestier verbirgt…
Tipps, Tricks und Anleitungen zum Selbermachen. Kompakt auf 140 Seiten Lesevergnügen. Das Buch kann man persönlich bei mir erwerben, incl. Stoffhülle und Lesezeichen (Kosten € 22,00 zuzüglich Versandkosten)
Eine letzte Frage zur Textilkunst: Finden Sie, dass die Textilkunst genügend gewürdigt wird? Und was könnten die Textilkünstlerinnen tun, um der Textilkunst den ihr zustehenden Platz unter den Künsten zu verschaffen?
Textile Kunst ist für die meisten Menschen Kunsthandwerk und hat leider nicht den Stellenwert eines gemalten Bildes. Ich persönlich freue mich, dass ich in Kürze Teilnehmerin einer großen Ausstellung zum Thema Anton Bruckner sein darf (Anmerkung: Österreichischer Komponist, wir feiern seinen 200. Geburtstag). Bei dieser Ausstellung werde ich die einzige Textilkünstlerin sein.