Reportagen

Bericht über die TEXTILE ART BERLIN 2019 – 2. Teil

Kaputte T-Shirts werden zu Boxershorts, löchrige Kaschmirpullis zu Mützen: in Workshops der Berliner Stadtmission lernen Langzeitarbeitlose nähen.

Der Textilhafen der Berliner Stadtmission wurde am 5. Juni 2019 eröffnet. Das enorme Spendenaufkommen von 10 Tonnen Bekleidung in der Woche hat neue größere Räume nötig gemacht.  Dort gibt es textiles Upcycling, einen textilen Materialpool und transparente Sortierung.

Die jungen Leute am Stand erklärten: „Wir versuchen durch Handarbeit mit dem Überfluss, den wir auf der einen Seite haben, den Mangel auf der anderen Seite auszugleichen. Wir möchten, dass die Leute den Wert von Textilien neu entdecken, dass sie nicht sagen, das ist alt und abgetragen. Sie sollen sagen, das mag alt sein, es mag ein bisschen schäbig sein, aber mit ein bisschen Kreativität, mit etwas Handwerk kann ich daraus wieder etwas machen, was schön ist, was schick ist.“

„Die Sachen, die wir gerade machen, werden in einer Nähwerkstatt im Hauptbahnhof genäht. Wir bringen Landzeitarbeitslosen, die teilweise auch beeinträchtigt sind, das Nähen bei. Aus der Not heraus hat sich entwickelt, dass wir aus Pullis, die kaputt sind, Mützen herstellen. Oder auch Unterhosen aus T-Shirts machen.“

Birgit Ströbel, die auch immer wieder für das Magazine schreibt, sagte mir zu den Kunstwerken von Claudia Lingen, sie sei ganz begeistert von den großformatigen Seidenbildern gewesen, die auf Metallgestänge gehängt waren und zart hingehauchte Kleidungsstücke zeigten. „Diese Bilder haben für mich große Poesie und auch etwas Melancholisches an sich. Vielleicht eine Erinnerung an die Vergänglichkeit von allem?“

Das Mixed Media Mosaik wächst stetig weiter. Auch Minna (5 Jahre alt), Johanna und Lotte (beide 6 Jahre alt), Paulina, Alma, Julia (alle drei 7 Jahre alt), Tilda (8 Jahre alt) und Johanna (10 Jahre alt) haben Teile geschickt. Die Einsenderinnen insgesamt waren zwischen 5 und 93 Jahre alt.

Im Raum von Zürcher Stalder bleibe ich gern eine Weile stehen, schon um dem Weber Koko von der Elfenbeinküste zuzuschauen, der am Boden sitzend mit einem ganz einfachen Webstuhl raffinierte Muster webt, ohne Karten, einfach aus dem Gedächtnis. Er hebt nur mit den Fingern die Kettfäden in bestimmter Reihenfolge an. Ja, ich erinnere mich richtig, sagte er, an der Elfenbeinküste wird ein Weber erst dann als Meister anerkannt, wenn er 25 unterschiedliche Muster weben kann.

Almyra Weigel begeistert mich immer wieder mit ihren Arbeiten. Hier hat sie Fotos mit zahllosen Fäden überspannt, so dass man die Figuren nur noch ahnen kann. Auch mit Fäden umwickelt, hat sie runde Objete, aus denen nur ein einzelnes Gesicht hervorschaut.

Im selben Raum war die neue Stoffkollektion der Textilkunst-Studierenden der VDA-Kaunas-Kunstfakultät aus Litauen ausgestellt. Lange Stoffbahnen vor dem Fenster und kleine Stoffproben auf den Tischen, z.B. Stoffe, die aussahen, als seien lauter kleine Knöpfe eingewickelt worden, ließen mich ganz genau hinsehen.

Bei weben+ freue mich mich jedes Jahr über die kräftigen Farben. In diesem Raum konnte jeder an einfachen Geräten ausprobieren, was es mit dem Weben auf sich hat.

Helga Höhne habe ich erst vor kurzem interviewt, sie hat einmal von sich gesagt: „Ich will Teppiche machen, die wie ein einziger Webfehler aussehen. Ins Ungewisse arbeiten und der Ahnung der Idee folgen; versuchen, richtig zu schließen.“ In ihrem Raum präsentierte sie Yoga- und Meditationsteppiche.

In einer Gruppenausstellung zeigte der Deutsch-Kirgisische Kulturverein mit den Kuratorinnen Dr. Asel Temiralieva-Meyer und Christine Bell Nomadenschmuck. Die Besucherinnen hatten die Möglichkeit, einen persönlichen Glücksbringer oder Talisman zu kreieren.

In der Ausstellung „farbSTOFF“ der Textilwerkstatt waren zahlreiche Arbeiten von Rita Zepf zu bewundern. Ihre Arbeiten sind alle nach Fotos gearbeitet. Sie näht auf das farbig ausgedruckte Papier und schneidet dann gezielt einzelne Teile des Fotos weg. Die Motive werden von ihr grafisch reduziert. Besonders hübsch die Arbeit „Tanz mit mir“. Frieda und Nele, fünf und drei Jahre alt, tanzen auf diesem Bild miteinander. Hier des Weiteren Arbeiten von Carola Fiedler und Birgit Paschke.

Blockdruck mit indischen Holzstempeln konnte man im Raum von Kashmir Heritage, Nathalie Cassée, ausprobieren. Sie lernte in den letzten Jahren Blockdruck mit Kunsthandwerkern und Ateliers in Indien, England und Frankreich. Hier zeige ich einen wundervollen gedruckten Lebensbaum aus Südindien, für den 213 Blöcke verwendet wurden. Für die Bordüre kamen noch einmal 4 Blöcke zu Einsatz. Auf den Holzsstempeln sind ebenfalls Bäume zu sehen.

Ingrid Wieland ist fast seit Beginn der TEXTILE ART BERLIN mit Arbeiten dabei. In ihrer neuen Ausstellung „Er, Sie, Es“ sind z.B. ihre Familie und der kleine Prinz zu entdecken.

Die kleinen Kalenderblätter-Quilts sind aus einem Challenge des Patchwork-Treffs Berlin-Brandenburg entstanden. Die Leiterin Jutta Rausch bot im Rundbrief der Gruppe an, monatlich ein interessantes Thema vorzugeben. Daraus sollte ein textiles Kalenderblatt oder eine Buchseite gestaltet werden. Die Größe 30×30 cm war vorgegeben. Neben der Ausstellung hat die Gruppe u.a. einen Atarashii-Workshop mit Materialset angeboten.

Petra Ewler hatte ein großes Zelt in einem der Höfe aufgebaut. Im Rahmen ihrer Ausstellung „SHINE“ hingen da ihre neuen Werke, die mir ausnehmend gut gefallen haben. Mit kleinen und kleinsten Teilen schafft sie Strukturen, bei denen man ganz genau hinschauen möchte. Im Zelt gab es auch einen interessanten Workshop. In freier Mischtechnik konnten Designs für Shirts durch Drucken, Sprühen, Zeichnen, Falten etc. kreiert werden. Auch ein schwarzes Kleid wurde bedruckt und sah sehr schick aus.

Der lachende Gnom vor der Tür des Raums von Beate Bossert ließ mich schmunzeln und war eine schöne Einladung, den Raum zu betreten. Dort lagen die gefilzten Steine der Künstlerin, sie sehen so echt aus! Ich habe sie nun schon öfter gesehen, aber jedes Mal bin ich fasziniert von den Formen, Farben und Linien. Solche Steine habe ich so oft auf Brandenburger Feldern gesehen.

Ein Detail aus dem länglichen gefilzten Wandbehang von Annemie Koenen haben Sie schon im Kopf des Beitrag über die ersten Eindrücke von der Messe gesehen. Es lohnte sich wirklich, jedes Detail genau zu betrachten.  Ganz anders ihre Arbeit „Verbindung zwischen Himmel und Erde“. Im Hintergrund entdecke ich Formen, die mich an australische Traumpfade erinnern.

Claudia Damm von StriXart präsentiert ihre Strickjacken und Pullover höchst gekommt selbst und hat Spaß dabei. Sie entwirft ausgefallene hochwertige Strick-Unikate, die in Handarbeit gefertigt werden.

Sabine Reichert-Kassube war kurz vor der Ausstellung ein Maleur passiert. Sie hatte mit Feuer experimentiert und dabei ist das Vorderteil des Kleides abgebrannt. Den Besucherinnen imponierte das Kunstwerk trotzdem sehr. Es erinnere sie an die Hexenverbrennungen, sagte eine Dame.

Und noch einmal Birgit Ströbel, dieses Mal zu den Arbeiten von Yvonne Zoberbier: „Unglaublich beeindruckt haben mich die kleinen feinen ‚Skulpturen‘ aus weißem Filz – es gab fast einen ganzen Raum davon. Sie sind so formschön und haben ‚klassische‘ Formen von Steinskulpturen, aber haben auch etwas Irritierendes, weil man sich gleich fragt, was das denn eigentlich für ein Material sein kann. Und erst beim zweiten Blick sieht man, dass es Filz ist. Ein Spiel mit Erwartungen – sehr raffiniert.“

Celina Mundet kreiert bunte Wandteppiche. Sie beschäftigt sich mit Themen wie Felskunst und Spiritualität. Ein Detail aus ihrer Arbeit bolivianische Sonne sehen Sie oben im Kopf. Zum Verkauf standen auch Anhänger, Traumfänger, Talismanobjekte und Mandalas.

Heike Becker erzählte mir: „Die Margaretenspitze hat ihren Namen von Margarete Neumann, die vor über 100 Jahren den Rippenknoten vom Macramee verwendet und damit ihr eigene Knüpftechnik entwickelt hat. Sie war bis 1925 in Plauen an der Kunstschule. Als sie weggegangen ist, war die Margaretenspitze vergessen. Wir haben im Vogtlandmuseum in Plauen noch über 400 Schülerinnenarbeiten von damals. Dann hat vor über 20 Jahren Lotte Heinemann aus Peine angefangen, die Technik wieder auszuarbeiten, die vollkommen vergessen war. Sie hat Kurse gegeben und war viel auf Märkten unterwegs.“

Adrian Salome „malt“  mit Wolle und Seide in natürlichen Farben. Großartig fand ich ihre dreiteilige Arbeit, die die Meeresbrandung darstellt. Die Gischt bestand aus schafwollenen Locken. Der Gesamteindruck war überaus natürlich.

Anne-Marie Mormon, die Frau, die mit Glas und Feuer spielt, fertigt einzigartige Glasperlen und Schmuck. Alle Perlen sind Unikate, die in üppigen Ketten montiert werden. Wussten Sie, dass Anne-Marie Mormon mehrere Stunden am Brenner verbringen muss, um eine einzige verzierte Perle herzustellen? Das rote Emsemble hatte bei der Modenschau am Samstagabend seine Premiere.

Was wären Textilkünstlerinnen und -künstler ohne Nadeln, Garne, Wolle, Stoffe, Bänder, Knöpfe etc. ? In den meisten Dörfern und Städten gab es früher Kurzwarenläden: sie sind fast alle verschwunden. Heute muss man Glück haben, wenn eines der Kaufhäuser noch Kurzwaren führt. Gleiches gilt für Stoffe und Wolle. Umso schöner, wenn auf einer Messe wie der TEXTILE ART BERLIN alles zu finden ist, was das Herz begehrt.