Portraits & Interviews

Interview mit der Textilkünstlerin Annie Bugnon

Ganz begeistert haben mich die Arbeiten der französischen Textilkünstlerin Annie Bugnon beim Carrefour Européen du Patchwork im Val d’Argent. Sie selber war  nicht anwesend, als ich vorbei kam. Ihr Mann erzählte mir gerne, die Künstlerin sei ursprünglich Keramikerin und bringe jetzt auch Teile wie ägyptische Fayencen in ihre Arbeiten ein. Außerdem präsentierte die Künstlerin Werke, die die Arbeit von Stickerinnen, Strickerinnen, Weberinnnen und Spitzenklöpplerinnen vergangener Zeiten würdigen sollen. Sie sammelt, wäscht und zertrennt Textilien aus aller Welt und baut beeindruckende Skulpturen.

Ich habe Annie Bugnon nach der Veranstaltung um ein Interview gebeten.

Wo sind Sie aufgewachsen und wo leben Sie heute?

Ich habe in Deutschland gelebt, bis ich ungefähr sechs Jahre alt war, dann sind meine Eltern nach Frankreich, in die Franche Comté, gezogen und ich lebe seit fast 40 Jahren im Südwesten Frankreichs.

Haben Sie eine künstlerische Ausbildung?

Ich habe von 1968 bis 1971 an der Kunsthochschule in Besançon (Franche Comté) studiert. Der Unterricht fand in einem wunderschönen Gebäude aus dem 17. Jahrhundert statt, der ehemaligen Halle aux Grains, die im Herzen der Stadt liegt.

Das erste Kunsthandwerk, das Sie entdeckt haben, war Keramik?

Ja, nach meinen ersten beiden Studienjahren an der École des Beaux-Arts entschied ich mich dafür, mich mit Keramik zu beschäftigen. Die Entdeckung des Töpferateliers war ein Schock: Der Geruch von Ton in dem großen Raum, die hölzernen Fußtürme vor den hohen Fenstern, deren kleine Fenster mit Ton beschmiert waren, die großen Steinplatten auf dem Boden – ich war aufgefordert, ohne Umschweife  das Unbekannte kennen zu lernen! Und diese Tätigkeit übe ich seit 40 Jahren aus.

Wann haben Sie Ihre Leidenschaft für Textilien entdeckt?

Es gab keine Entdeckung. Meine Faszination für bemalte und bestickte Stoffe war schon immer in mir vorhanden, ohne dass ich mir ihrer wirklich bewusst war. Ich habe sehr früh stricken gelernt, an Web- und Nähkursen teilgenommen und Stickereien auf Jutegewebe gemacht, ohne dass all dies zu etwas geführt hätte. Ich war immer tief berührt, ja sogar fasziniert von der unglaublichen Geschicklichkeit, dem Erfindungsreichtum und der Modernität der Werke, die unsere Vorfahren geschaffen haben, egal ob sie aus Afrika, Ungarn, Thailand oder Frankreich stammen. Die Arbeiten, die ich derzeit ausstelle, sind neu. Textilien sind vor vier Jahren ohne Vorwarnung in mein Leben getreten. Es war dringend, unwiderruflich und so natürlich.

Was fasziniert Sie an Textilien als Kunstform?

Aufgrund ihrer Herkunft aus der Natur ist sie zeitlos, universell. Jeder kann sich darin wiedererkennen und von dem, was sich darin verbirgt, berührt werden. Textilien erzählen uns vom Menschen, von seiner Beziehung zum Himmel, zum Regen, zum Wind, vom langsamen Prozess des Aufblühens, ganz einfach vom Leben. Es ist ein Gedächtnis der Welt, ein Emblem, ein Alphabet. Es ist das Zeichen einer Allianz zwischen Mensch und Natur. In diesem Sinne ist das Textil an sich ein Kunstwerk.

Welche Techniken verwenden Sie?

Das ist ganz einfach, ich verwende keine Techniken. Ich kann nur den Saumstich und den Knopflochstich, mit denen ich die verschiedenen Stoffstücke zusammenfüge. Ich habe alles aus meinem Nähkurs vergessen.

Wie würden Sie Ihre Arbeit beschreiben?

Meine heutige Arbeit ist das Ergebnis eines langen inneren Weges, eine Synthese aus all den Forschungen, die ich im Laufe meines Lebens betrieben habe. Ich fühle mich tief verankert, ruhig in der Verwirklichung dieser Kreationen, die wie das Pulsieren des Erbes unserer Vorfahren aus allen Ländern ist. Ihre Fertigkeiten und ihr Wissen sind seit Anbeginn der Zeit in uns abgelegt. Ihre Kultur, ihre Traditionen und ihr Glaube überlagern sich, vermischen sich und singen in mir mit einer einzigen Stimme. So drückt sich meine Arbeit aus, freudig, in der Seele der Welt, die mir ihre Arme entgegenstreckt; daher der Ausdruck „Erinnerungsaufhellerin“ (von meinem Mann gefunden), der meinen Ansatz in diesem Bereich zusammenfasst.

Können Sie uns beschreiben, wie ein Werk von der Idee bis zur Fertigstellung entsteht?

Eine Idee zu haben, sie auf einem Blatt Papier zu formulieren, sie durch das Volumen zu konkretisieren, sie durch das sukzessive Auftragen von Textilien, das Ausprobieren, das Wegwerfen, das Wiederaufgreifen umzusetzen – es ist kompliziert, diesen langen, stillen inneren Dialog zu beschreiben, in dem sich alles entwickelt und jeden Moment verändert.

Was inspiriert Sie?

Die Geschichte des Menschen. Wie er, um seine Umwelt zu verstehen und in der Natur zu überleben, eine Sprache, ein universelles Bild, das Symbol, geschaffen hat. Die Symbolik, Zeichen, geometrische Figuren und Farben sind untrennbarer Teil unseres Menschseins.

Worauf sind Sie in Ihrer bisherigen künstlerischen Laufbahn am meisten stolz?

Ich bin stolz darauf, dass ich meine Projekte zu Ende gebracht habe – wenn es überhaupt ein Ende gibt.