Portraits & Interviews

Interview mit der Seele der Textile Art Berlin: Natacha Wolters

Im Sommer 2022, nach 37 Jahren Berliner Leben, führt mich mein neues Projekt nach Frankreich, wo ich mich in der unmittelbaren Umgebung von Straßburg niedergelassen habe. Mit einem Haus und einem Atelier umzuziehen, ist keine leichte Aufgabe, aber die Dynamik ist vielversprechend und ermöglicht es mir, Ideen zu verwirklichen und meine Kreativität zu entfalten.

Die Berliner Zeit war der Förderung der Textilkunst in all ihren Formen gewidmet. Neben meinen Arbeiten, persönlichen Recherchen und Veröffentlichungen in der internationalen Fachpresse hatte ich das Glück, im MEK (Museum Europäischer Kulturen – Staatliche Museen zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz) ab 1991 eine außergewöhnliche Partnerschaft zu bilden. Dort fanden wir einen Rahmen für die monatlichen Treffen der „Bead People Berlin“, einer Gruppe von talentierten Textildesignern und -designerinnen, die in vielen Techniken zu Hause waren. Parallel dazu habe ich fast zwanzig Jahre lang Künstlerworkshops im Museum organisiert, um vergessene Fertigkeiten zu lehren und neue kreative Methoden zu zeigen. Die Direktorin des Museums, Frau Prof. Dr. Elisabeth Tietmeyer, unterstützte uns großzügig und erlaubte uns, auf den immensen Reichtum des Museumsfundus zurückzugreifen, was uns erlaubte, jeden Kurs mit historischen und dokumentierten Beispielen zu unterfüttern.

2004 war auch der Beginn einer völlig neuen Messe für Textilkunst: TEXTILE ART BERLIN, die von meinem Mann Dr. Christof Wolters ins Leben gerufen wurde. Von 2007 bis 2021 war diese Messe meine jährliche Hauptaktivität und ließ nur die Zeit, meine Master Classes vorzubereiten, die in der Regel 8 bis 10 Unterrichtseinheiten pro Jahr umfassten, und die Veranstaltungen in der Galerie in der Victoriastadt zu organisieren.

Um es klar zu sagen, keine der intensiven Aktivitäten rund um die TEXTILE ART BERLIN wäre möglich gewesen,ohne das unerschütterliche Engagement des brillanten Teams, das mich über die Jahre hinweg unterstützt hat. Ich bin zutiefst dankbar für Exzellenz, Kreativität und Freundschaft, die nie nachgelassen hat.

Künstler und Kunsthandwerker der Textilkunst sind ihrem Wesen nach Menschen der Meditation und oft der Stille. In diesem Sinne haben mir die zwei Jahre der Pandemie die Möglichkeit gegeben, mehr für mich selbst zu schaffen und mein Leben anders auszurichten. Die aufregende Erfahrung von TAB-Online im Juni 2021 hat mich dazu bewogen, die neuen Geschicke dieses Textilevents in die erfahrenen Hände meiner Freundin Claudia Eichert-Schäfer zu legen.

Während ihres Besuchs in meinem neuen Zuhause (noch vollgestopft mit Kartons) fragte sie mich, „wie alles angefangen hat“. Hier ist also ein etwas lückenhafter Überblick, der aber dennoch einen ersten Eindruck vermitteln kann.

Frage: Erzähle uns von Deinem Werdegang.

Ich hatte eine bi-nationale Familie. Meine Mutter war russischer Abstammung, ist aber schon in der Schweiz geboren. Meine Großeltern russischerseits haben vor dem 1. Weltkrieg in Paris studiert und sind dann in Frankreich geblieben, weil in Russland die Revolution war.

Mein Vater war Franzose. Er war Ingenieur und Maler. Haupt-Themen: kluge, futuristische Maschinen, die erlaubten, z.B. zwei U-Boot-Hälften zusammen so präzise zu positionnieren, dass man sie zusammenlöten konnte. In seiner Freizeit malte er fantastische maritime Szenen. Er war die linguistische Minderheit in der Familie, denn meine erste Sprache war hauptsächlich russisch, aber er hat mich, wie meine Mutter, empfänglich für die Welt-Litteratur gemacht. Mein Großvater russischerseits war in der Ukraine geboren. Er hatte Architektur in Kiew, Sankt Petersburg und dann in Paris studiert. Mein Großvater französischerseits war Maler und Illustrator. Beide Teile der Familie hatten mit Kunst zu tun. Ich bin erst mit 8 Jahren zur Schule gegangen. Vorher hat mir mein russischer Großvater zuhause zweisprachig lesen und schreiben beigebracht. Ich habe mich in der Schule sehr gelangweilt, denn zuhause konnte ich viel lesen, malen, schreiben und textile Techniken lernen.

Wir hatten Freunde, die diverse Tätigkeiten ausübten, wie Haute Couture etc. Ich habe von diesen Freunden sehr früh viel gelernt. Trotzdem, nach vielen Überlegungen zwischen Malerei, Theaterkostümen oder Architektur, habe ich mich für Medizin entschieden. Mein Großvater hatte gesagt, Architektur ist nur für Männer. Damals war es fast unmöglich, als Frau eine Baustelle zu führen. Und Artdeco ist eine Unterebene, das ist nicht gut genug. Meine Mutter meinte, als Frau musst Du einen „echten“ Beruf haben um unabhängig zu sein. Sie hat die Familie aus der Kriegszeit heil rausgebracht, in den 50er Jahren ein Haus gebaut, und sobald die drei Kinder groß waren, hat sie ihr Studium, das sie in den USA vor dem Krieg angefangen hatte, wieder aufgenommen. Sie ist dann lange Jahre Lehrerein an einer internationalen Schule und dann an der Uni gewesen.

Frage: Dann hast Du all diese handwerklichen Fähigkeiten wie stricken, häkeln, nähen von der Mutter oder Großmutter gelernt?

Das habe ich von meiner Mutter gelernt. Sie hatte die fantastische Fähigkeit, Farben von Punkt A mit Punkt B zu vergleichen. Das ist sehr selten und ich war absolut fasziniert. Nach dem Krieg hatten wir sehr wenig Geld und sie hatte gesagt, du kriegst von mir Wolle, Garne und Stoffe, aber du musst selbst nähen oder stricken. Eine Nähmaschine hatten wir erst 1952: die kleine, wunderschöne Elna. Aber vernähen durfte ich nur mit der Hand!

Frage: Als die Schule dann abgeschlossen war, wofür hast Du Dich entschieden?

Ich habe 3 Jahre Medizin studiert, dann bin ich zur Psychologie gewechselt. Ich bin Diplompsychologin und habe außerdem noch einen weiteren psychologischen Abschluss gemacht. Nebenbei habe ich schon wissenschaftlich gearbeitet und geforscht.

Frage: Was waren das für Forschungen?

Das war ganz neu. Das war die erste Automatisierung von Vokabularrecherchen mit dem ersten Computer. Man sollte Texte analysieren und das ganze System dahinter entwickeln. Es ging um die ersten automatischen Übersetzungen. Das Denken dahinter war sehr interessant. Wie kann man klassifizieren, Worte verschlüsseln etc. Der Anfang von „Artificial Intelligence“. Ich habe das sehr genossen.

Dann wurde meine Tochter geboren und gerade zu diesem Zeitpunkt hatte die Abteilung, in der ich gearbeitet habe, keine richtige Finanzierung mehr. Ich hätte wechseln können, aber ich habe mir gedacht, die Tochter zuhause und ich im Büro – das ist absurd.

Ich habe dann weiter in meinen Lieblingstätigkeiten gearbeitet. In Marseille habe ich eine Engländerin getroffen und wir haben zusammen Kollektionen für die Mode entwickelt – Unikate. Außerdem habe ich sehr viel Stoffmalerei gemacht. In der Provinz gab es sehr viele kleine Boutiquen, das hat sich gut entwickelt und verkaufen lassen. Dann bin ich mit Tochter und Mann wieder in die Nähe von Paris gezogen. Er arbeitete erst in Marseille, dann wurde er nach Paris versetzt, er war Archäologe.

Dann habe ich ein kleines Bauernhaus aus dem 18. Jahrhundert wieder aufgebaut – es war eine Ruine. Daraus habe ich ein Zentrum für Textil gemacht. Ich hatte 5 Webstühle und habe Kurse gegeben. Es gab auch eine Miniboutique im Souterrain. Die Kurse waren hauptsächlich Weben und Malerei auf Textil. Ich habe immer Leute gefunden, die mir etwas beigebracht haben. Da war zum Beispiel eine Schwedin, die alles über das Weben in Schweden wusste, dort sind sie technisch wirklich sehr, sehr gut. Und ich habe natürlich viel geforscht und experimentiert.

Frage: Du hast eine ganze Weile für die Haute Couture gearbeitet?

Dann habe ich mit der Haute Couture angefangen und habe für Ungaro und Lanvin gearbeitet. Sehr verschiedene Projekte, denn sie hatten mindestens 4 Kollektionen pro Jahr. Für jede Kollektion muss man etwas ganz Neues machen. Ich habe Accessoires gemacht. Für die Männer-Kollektion von Lanvin habe ich zum Beispiel eine Kollektion gewebter Krawatten gemacht, die wurden auf einem ganz speziellen Webstuhl für Bänder gewebt.

Für Frauen habe ich diverse Sachen kreiert, z.B. Medaillons für Taschen. In der Haute Couture macht man etwas und dann wird es weiterbearbeitet und integriert von einem Spezialisten. Wenn Du ein dekoratives Teil, beispielsweise ein schönes Medaillon machst, geht das an eine Werkstatt, die nur Taschen macht und diese Medaillons integriert.

Dabei habe ich gelernt, wie man in Serien arbeitet, wie man die Preise so reduziert, dass das auch zeitlich machbar ist. Die teuerste Tasche für eine Sommer- oder Winterkollektion war ein Täschchen mit Applikationen, bemalt und bestickt etc. Davon wurden 300 verkauft. Ich habe alle 300 gemacht, und Tag und Nacht in Serie gearbeitet.

Ich habe die Farben für die Kollektion bekommen – das waren 4 Quadratzentimeter Stoff, wo man nichts erkennen konnte. Denn dieser Stoff darf weder kopiert noch verkauft werden.
Ich habe mit faszinierenden Leuten gearbeitet, das waren immer die Direktor*innen der jeweiligen Abteilung, die ein fantastisches Wissen von diesen Arbeiten hatten, auch handwerklich – und das war schön, aber hart. Das habe ich mehrere Jahre gemacht.
Dann hat mich irgendwann Jaqueline Govin erreicht, das war 1982. Sie sagte, ich bin eine Textilperson und bereite zwei wichtige Ausstellungen für Japan vor. Darüber wollte sie mit mir sprechen. Dann habe ich angefangen, für mich selbst zu arbeiten. Parallel zu den Haute-Couture-Kollektionen habe ich angefangen, gewebte Tapisserien und gestickte Bilder zu entwickeln.

Ich bin nie in Japan gewesen. Ich hatte andere Sachen zu tun und sie hat alles fantastisch organisiert. Es ging um Textilkunst aus Frankreich, meine Sachen wurden dort ausgestellt, inklusive einem Katalog und dem Umschlag für beide Kataloge.
Daraus ist über die Jahre eine sehr schöne Freundschaft entstanden. Jacqueline ist bescheiden und talentiert. In Japan ist die unglaublich bekannt, denn sie hat 3 Jahre das Cover von einem monatlichen Magazin gemacht.

Frage: Wann bist Du nach Berlin gekommen?

1984 bin ich zu meinem 2. Mann Christof nach Berlin gekommen. Christof war Archäologe und ein sehr begabter Fotograf. Er sagte, du musst Deine Arbeiten unbedingt dokumentieren. Er hat Hefte gemacht, in denen die Sachen nach Kunstrichtungen abgebildet waren.
In Berlin habe ich dann für die 2. Ausstellung von Jaqueline Govin gearbeitet und parallel mich in Perlenarbeiten vertieft. Ich hatte zwei kleine Perlentäschchen von einem Flohmarkt in Frankreich, die ich immer faszinierend fand: es waren wunderschöne und geheimnisvolle Objekte.

Natürlich hatte ich für die Haute Couture viel mit Perlen gestickt, aber mit Perlen häkeln oder stricken war mir neu. In Berlin auf dem Flohmarkt gab es damals viele von diesen Täschchen mit Perlenarbeiten. Ich habe angefangen, mehrere Jahren systematisch zu forschen, zu dokumentieren, zu üben, Perlen zu sammeln und eine ganz neue Welt zu entdecken. Dann hat mich eine französische Freundin, die einen Verlag hat, gefragt, ob ich nicht Lust hätte, darüber ein Buch zu schreiben. Das haben wir auch gemacht.

Es ist interessant, wenn man solche Techniken lernt, erforscht etc., dann geht man weiter, wenn man alles verstanden hat. Zumindest ich arbeite so. Jetzt arbeite ich auch mit Perlen, aber ich integriere das in meine Textilien – es ist nicht mehr „Perlen pur“ sondern Farben, Volumen und Materien, die sich gegenseitig „potenzialisieren“.

Frage: Du planst mehrere Bücher zu schreiben?

Seit langen Jahren führe ich Master Classes, die viele Aspekte der Kreativität und Kunsthandwerk explorieren. Es gibt ein sehr breites Spektrum von Techniken und Materialien. Diese Bücher werden neue Wege zeigen und die Inspiration geben, selbst individuelle Unikate zu zaubern.

Hier ein paar Erläuterungen zu den Fotos:

Fotos aus dem Atelier: Sie zeigen, wie eine Arbeit aus Materialien, Farben und einer Idee entsteht. Ohne jegliche Inszenierung, ein Moment des Schaffens.

Übungen: Wenn ich mich im „Forschungsmodus“ befinde, ist es oft interessant, kleine Stoff- oder Papierstücke zusammenzufügen, zusammenzukleben, mit der Maschine und den Fäden zu spielen. Eine Art textiler Gesang. Ich sammle meine Übungen in einem Heft. Manchmal dient eine Übung später als Grundlage für ein größeres Projekt, ein Plissee, eine Handstickerei, aber man muss wissen, dass man nicht alles verwenden darf!

Details: Makrofotos zeigen wichtige technische Aspekte; sie schaffen auch eine Welt für sich, eine neue Art, ein Objekt zu sehen.