Hiltrud Schuster ist ausgebildete Kunststickerin. Sticken empfindet sie als Malen mit der Nadel. Ich wollte mehr über sie wissen und habe sie interviewt.
Ab welchem Alter haben Sie mit Nadelarbeiten begonnen und wer hat sie angeleitet?
Mit ca. 5-6 Jahren wurde ich die beste Sockenstopferin der Familie. Ich wollte meine Mutter entlasten, und mit sechs Brüdern war da immer genug Handlungsbedarf. Ich stopfe auch heute noch meine Strümpfe. Auch Stopfen ist Kunst – ein Loch so zu stopfen, dass man es beim Laufen nicht spürt, will gelernt sein. Außerdem legte meine Mutter großen Wert auf Ästhetik. Ihre komplette Wäscheaussteuer war mit Initialen und Ornamenten in Weißstickerei verziert. Sie kam aus einer katholischen Familie; zwei ihrer Brüder waren Pfarrer. In der Familie wurden daher seit jeher Paramente (im Kirchenraum und in der Liturgie verwendeten Textilien) selbst hergestellt.
Gab es in der Schule Handarbeitsunterricht?
In der Schule wurde vorwiegend gestrickt und gehäkelt, Dinge für den täglichen Gebrauch hergestellt. Das hat mich aber überhaupt nicht begeistert und war mir viel zu langweilig. Meine erste gestrickte Socke schaffte ich gerade mal bis zur Ferse. Sie blieb die „Unvollendete“ und bescherte mir die Zeugnisnote 6 in Handarbeit.
Hat das Sticken Sie von klein auf fasziniert?
Sticken war zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein Kulturgut. Kaiser Wilhelm hatte in Berlin eine eigene Stickerei – eine Manufaktur – wie ich von einer alten Dame erfuhr, deren Mutter dort gearbeitet hatte. Auch Hitler wusste diese „weibliche Tugend“ für seine Ideologie einzusetzen. Die Frauen wetteiferten um die schönsten Sinnsprüche. (Lit. Trautes Heim …, 1986 Süddeutscher Verlag).
Schutz und Magie ist die eigentliche Wurzel der Stickerei. Sie ist auf der ganzen Welt zu finden. Hinter den landläufig als Verzierung und Verschönerung angesehenen Motiven steckt eine uralte Symbolik, die sich über die Stickerei bis heute bewahrt hat. Die Magie von Symbolik hat mich von klein auf fasziniert – und tut es noch immer.
Sonntags ging ich immer in den Garten zum Zeichnen – ganz einfach mit einem Stück Papier und einen Bleistift. Ich wollte das, was ich sah, „anders“ sichtbar machen. Mein Garten ist bis heute meine Inspirationsquelle geblieben.
Eine immer wiederkehrende Mittelohrentzündung mit anschließender Operation und darauf folgendem massiven Hörverlust zwang mich dazu, Alleingänge in meiner Beschäftigung zu suchen. Außer Radio und der Tageszeitung gab es so gut wie keine Medien – aber in der Pfarrei meines Onkels gab es eine große Bibliothek, in der wir Kinder sonntags immer Literatur ausleihen durften. Meine liebsten Bücher waren Sagen, Legenden … und Kunstbücher. Bei letzteren fand ich auch immer wieder Hinweise auf die Stickkunst. Mein Onkel, der auch ein leidenschaftlicher Hobbymaler war, schenkte mir mein erstes Kunstbuch, das ich heute noch in Ehren halte. Dies war mit Sicherheit der Samen für meinen späteren Weg.
Erzählen Sie uns von Ihrer Ausbildung zur Kunststickerin.
Bedingt durch meinen Hörverlust war ich in meiner Berufswahl eingeschränkt. Meine Familie empfahl daher den praktischen Beruf der Schneiderin, denn Nadel und Faden brauchen kein Gehör. Ich lernte, Reißverschlüsse in Männerhosen auszutauschen, zerschlissene Hemdkragen zu erneuern und zerrissene Taschenbeutel zu flicken. Das war jedoch nicht mein Ding. Die begonnene Lehre bei einer ausgesprochen nörgelnden Lehrherrin war schnell beendet. Danach folgte ein soziales Jahr im Krankenhaus, was aber auch nicht dem entsprach, was ich suchte.
Inzwischen war ich 16 Jahre alt. Mein Onkel erzählte von einem Kloster in Bad Honnef, wo er ein Messgewand erstanden hatte. Auch mit Grundschulabschluss könne man im hiesigen Internat das Nähen lernen, wusste er zu berichten. Als ich die kunstvoll bestickten Messgewänder mit viel Ornamentik und Symbolik in Gold, Silber und Seide bestickt sah, da wusste ich, wonach ich gesucht hatte! Mein Kunstinteresse war wieder geweckt und überzeugte auch die Leiterin der Lehrwerkstätte. Wir vereinbarten eine Probezeit in der Stickerei-Werkstatt. Aus den 3 Monaten wurden 3 Jahre zur Ausbildung als Kunststickerin.
Die Ausbildung war vielseitig angelegt. Von der Theorie über Farben, Textilkunde, Kirchengeschichte, Architektur und Kunstunterricht bis hin zur praktischen Umsetzung im Sticken, von der Bedeutung der Symbole über den Einsatz von Gold- und Silberfäden, Seide, Wolle, Baumwolle, Brokat und Synthetikstoffen. Wir lernten textile Bindungen, Kirchengeschichte und Liturgie, für welche am Ende diese Gewänder und Zubehör hergestellt wurden. Alles musste harmonisch abgestimmt sein und auch die Magie musste stimmen, denn letztendlich war die Kirche der Hauptauftraggeber.
Wir lernten, ein Werkstück vorzubereiten, den Stoff also in einen Rahmen zu spannen, damit sich die Stickerei nicht verziehen konnte. Dann wurde das Motiv übertragen, das man sticken wollte. Es erfolgte die Materialauswahl: Goldfäden Silberfäden, Metallkordeln, Seide, Samt, usw. Gestickt wird mit zwei Händen, überwiegend in Legetechnik. Dabei wurde viel Kreativität verlangt, sowohl bei der Auswahl der Formen als auch bei der Zusammenstellung von Farben und Material. Meine große Stärke waren und sind abstrakte Motive, die auch bei meinem Gesellenstück sichtbar wurden. 1967 legte ich erfolgreich die Gesellenprüfung als staatlich geprüfte Kunststickerin ab.
Wie viele ausgebildete Kunststickerinnen gibt es in Bayern noch?
Mit Gewissheit kann ich das nicht sagen. In Bayern ist der Beruf jedenfalls nicht anerkannt. Er wird ausschließlich als Paramentenstickerei von Nonnen in Klöstern ausgeführt. Aber auch dort scheint diese Zunft auszusterben, da sich die wenigen nachkommenden Nonnen lieber sozialen Aufgaben widmen als der Herstellung von Messgewändern. Das Deutsche Museum in München wurde vor wenigen Jahren auf mich aufmerksam und schickte mir eine Schülerin, die für ihre Ausbildung als Textil-Restauratorin die Theorie und Praxis der Goldstickerei erlernen sollte. Ich bildete sie darin aus. Die Restauration ist wohl die einzige Möglichkeit, heute noch in diesem seltenen Beruf Fuß zu fassen und zumindest die historische Handwerkskunst zu erhalten. Das Wissen über die Hintergründe der Stickkunst wird wohl mit meiner Generation verloren gehen.
Für Sie ist Sticken Malen mit der Nadel. Das heißt, Sie entwerfen Ihre Motive selbst?
Die zum größten Teil abstrakten Motive entwerfe und zeichne ich selbst. Meine Darstellungen haben fast immer was „Elementares“ und damit Magisches. Sonne, Mond, Wasser, Feuer, Erde, Luft, … es gibt viele Möglichkeiten, sich mit den Elementen auseinanderzusetzen und sie immer wieder anders darzustellen. Das inspiriert mich. Wie ich diese in der Stickerei umsetze, entscheide ich oft spontan. Manchmal bin ich über mich selbst erstaunt, was da unter meinen Händen entstehen will. Es klappt auch nicht immer. Ich brauche die richtige Zeit und Muse, um mich voll und ganz darauf einlassen zu können.
Was kommt bei Ihnen in einer größeren Arbeit an Stickstichen und Materialien alles zum Einsatz? Bitte schildern Sie uns Ihren Weg von der Idee zu einer fertigen Stickarbeit.
Ich kann durch mein vielfältiges handwerkliches Können aus einem großen Reichtum an Sticktechniken schöpfen. Am liebsten arbeite ich jedoch mit der Legetechnik, da sie den größten kreativen Freiraum bietet. Ich sammle Stoffe, Fäden, Wolle und alle möglichen Materialien, die mich inspirieren. Daraus erstelle ich eine Materialcollage und fange an. Oft fällt mir während des Stickens etwas Neues ein. Dann versuche ich, es einzubauen. Oder ich trenne auf, wenn mir etwas nicht gefällt. Der Prozess ist nie von Anfang an fest geplant. Ich lasse gerne noch Raum für spontane Eingebungen. Fertig ist die Stickarbeit, wenn die Komposition stimmig ist – wenn nichts mehr fehlt. Dann bekommt das Bild einen festen Hintergrund, wird mit Polster hinterlegt, um die Plastizität zu untermalen, und wird manchmal auch gerahmt.
Sie geben Ihr Wissen gern weiter und unterrichten?
In den 90er Jahren suchte die Volkshochschule Landsberg Dozenten für ihr Programm. Sticken wurde zu der Zeit nicht angeboten, also meldete ich mich. Mir ging es darum, nicht nur die Sticktechnik als Handwerk, sondern auch die Symbolik und magischen Hintergründe zu den Motiven zu vermitteln. In Form von Bildern, Schmuckdöschen oder Ostereiern vermittelte ich Kreuzstich, Nadelmalerei und Weißstickerei und fand stets begeisterte Teilnehmer. Die Landsberger Altstadt mit ihren farbenfrohen Fassaden inspirierte mich zu selbst entworfenen Kreuzstich-Motiven der Landsberger Stadtansichten, die ich den Teilnehmern zur Verfügung stellte.
In einem österreichischen Reha- und Gesundheitszentrum bot ich als „Beschäftigungstherapie“ Kurse in meditativem Sticken an. Dort konnte ich die spirituelle Seite der Stickarbeit vermitteln, denn die Teilnehmer konnten über die Beschäftigung mit ihrem Thema in Kombination mit bereits vorhandenen oder selbst entworfenen Stickmotiven in meditativer Art und Weise zur Ruhe kommen und Lösungen für psychologische Probleme finden.
Aber meine große Liebe und Leidenschaft blieb die Kunststickerei. Als die Stadt Landsberg, mir anbot, zum historischen Ruethenfest die Stickerei als altes Handwerk zu präsentieren, sah ich die Chance, die Kunststickerei, wie ich sie gelernt habe, bekannt zu machen. Ich wählte ein Mondmandala, vergleichbar mit den Rosetten der runden Kirchenfenster, in Gold- und Silber-Legearbeit. Das Publikum war fasziniert. Aber so richtig konnte doch niemand etwas damit anfangen. Die Kunststickerei schien für die Leute wie etwas von einem anderen Stern zu sein. Sticken hat für die meisten Leute einen praktischen Bezug: Kissen, Tischdecken – der dekorative Zweck steht im Vordergrund, nicht die Kunst selbst oder die sakrale Symbolik dahinter.
Sie haben einmal gesagt: „Die Textilkunst steht in der breiten Palette der Künste eigentlich unter „ferner liefen“. Auch das Sticken ist ein Stiefkind der Kunst.“ Da haben Sie leider völlig recht. Was müsste sich ändern?
Stickerei ist für die meisten Menschen unter dem Begriff „Volkskunst“ im Zusammenhang mit klassischen Sticktechniken, wie dem Kreuzstich, bekannt. Über die Symbolik der alten Motive weiß heute kaum noch jemand etwas. Stickerei ist einem schnelllebigen, dekorativen Trend unterworfen, der billig, industriell oder in Niedriglohn-Ländern zu unfairen Bedingungen hergestellt wird. Im Vergleich zur Malerei ist kreative Stickarbeit noch dazu wesentlich zeitaufwändiger, und exklusive Materialien, wie Gold- und Silberfäden, sind kaum noch erhältlich und fast unerschwinglich. Wenn die Textilkunst es der Malerei gleichtun wollte, müsste diese bislang sehr exklusive Kunstsparte einer breiten Masse „verkauft“ werden.
Stickkunst, wie ich sie vermittelt bekommen habe, hat ihren Ursprung in der sakralen Kunst und lebt vom Hintergrundwissen über Mystik und Symbolik. Im europäischen Raum steht die Kunststickerei im starken Bezug zur Kirche, die seit vielen Jahren schwer mit dem modernen Zeitgeist kämpft. Mit Papst Franziskus zieht aktuell Bescheidenheit ins Christentum ein, was ich persönlich begrüße – Prunk und festliche Gewänder gehören damit jedoch endgültig der Vergangenheit an. Die sakrale Stickkunst ist ein unaufhaltsam aussterbendes Kulturgut.
In meinen Werken spielt die Spiritualität nach wie vor eine entscheidende Rolle. Bei der kreativen Beschäftigung mit Formen, Farben und den Darstellungen innerer Eingebungen versetze ich mich in einen meditativen Zustand – nur so entstehen Bilder, die ich mit den erlernten Techniken umsetze. Wenn die Stickkunst sich insgesamt wieder stärker auf ihre spirituellen Wurzeln besinnen würde, wäre das aus meiner Sicht die größte Chance einer exklusiven Kunst, die nichts Geringerem als der Verehrung des Universums gewidmet ist.
Aus einem Artikel aus dem Kreisboten vom 24.7.1991
Die Krönung ihres bisherigen Schaffens ist aber ein Landsberg-Bild, an dem die Künstlerin mit sehr feinem Kreuzstich sieben Jahre stickte. 14 unterschiedliche Blautöne beanspruchte allein das Wasser des Lechs: „Selbst Entwurf, Farbgebung und „Vorsticken“ sichern nicht das endgültige Aussehen. Unterm Sticken passiert manches. Bei der Fertigstellung des Lechwehres bemerkte ich auf einmal, wenn ich wie gewohnt runtersticke fließt das Wasser nach oben. Das hieß: Auftrennen und nochmal von vorn!“
Alle Fotos wurden von Hiltrud Schuster zur Verfügung gestellt