Die koreanische Textilkünstlerin und Professorin Ihn Sook Shin war im Februar zu Besuch in Berlin. Sie ist sehr bekannt für ihre oft großformatigen Stickereien und ihre ungewöhnlichen Stick-Materialien. Ihn Sook Shin hat in Korea und Frankreich schon 30 persönliche Ausstellungen, teils in großen Sälen, präsentiert. Sie hat in Korea zwei Galerien und bereits mehrere Kataloge ihrer Arbeiten herausgegeben. Die meisten ihrer häufig großformatigen Arbeit aus den Katalogen sind verkauft. Natacha Wolters und Claudia Eichert-Schäfer haben sie interviewt.
Ihn Sook Shin hat in Frankreich an der École Duperré, einer renommierten Hochschule für Design und Mode, studiert. Zwar war die erste Bewerbung noch nicht erfolgreich, im darauffolgenden Jahr wurde sie jedoch aufgenommen und hat in drei Jahren ihren Abschluss gemacht.
Sie erzählt: „Ich habe mein Diplom in Stickerei gemacht. Das Sticken habe ich gewählt, weil meine Mutter ebenfalls Stickerin war. Sie war Meisterin der traditionellen koreanischen Stickkunst und zu ihrer Zeit sehr bekannt.“
„Was ist typisch für die traditionelle koreanische Stickerei.“
„Sie ist in jeder Hinsicht völlig anders: die Farben, die Stickstiche. Gleichzeitig gibt es bei der praktischen Arbeit einige ähnliche Techniken.“
„Haben Sie das Sticken von Ihrer Mutter gelernt?“
„Nein, überhaupt nicht. Meine Mutter ist in Japan geboren, weil ihr Vater in Japan studiert hat. Als sie nach Korea zurückkam, hat sie als Lehrerin an einer Grundschule gearbeitet. Sie hat damals festgestellt, wie schön die koreanische Stickerei ist. Sie hat bis zum Alter von 75 Jahren gearbeitet. Ihre Arbeiten wurden zum Beispiel 1990 im koreanischen Kulturzentrum in Paris ausgestellt.
Was ich heute mache, hat überhaupt nichts mehr gemein mit dem, was meine Mutter gemacht hat. Meiner Mutter waren die traditionellen Muster wichtig, zum Beispiel die 10 Symbole der Langlebigkeit. Sie hat immer mit den Mustern von Keramiken gearbeitet. Ich arbeite ganz ohne Vorlage, nur auf der Grundlage meiner Phantasie, vielleicht nach ein paar Zeichnungen. Ich sticke zum Beispiel Blumen.“
„Welches sind Ihre Lieblingsfarben? Ich habe den Eindruck, dass Sie gern mit rot, rosa und violett arbeiten?“
„Ja, Sie haben das schon ganz richtig gesehen, ich arbeite gern mit rosa und violett, das findet sich oft in meinen Arbeiten.“
Aufregend ist ihre Doktorarbeit von 1991, in deren Rahmen sie sich mit einer französische Stickarbeit aus dem 14. Jahrhundert und einem bestickten koreanischen Paravent aus dem 17. Jahrhundert befasst. Sie betrachtet das weltberühmte Chorhemd der Abtei von Montiéramey sowie einem 10-teiligen Paravent, der Szenen aus einem koreanischen Roman „Wolkenträume“ des koreanischen Autors Kim Manjung aufgreift und vielleicht von Mitgliedern der Familie des Autors geschaffen wurde, und stellt Vergleiche an.
Neu im Werk von Ihn Sook Shin sind Stickereien, die Stadtpläne darstellen. Natacha Wolters fragt sie, wie sie auf die Idee gekommen ist.
„Man kann die Lebensstile vergleichen. Früher haben wir in kleinen Häusern gelebt. Heute ist der Stil ganz anders. Heute gibt es Autos, früher waren es Pferde oder Karren. Heute macht die Regierung einen Bebauungsplan. 1910 begann die Besatzung durch die Japaner. Da hat der Wandel seinen Anfang genommen. Die Japaner kamen mit den Adressen, die Straßen und Hausnummern nicht zurecht. Sie haben die Bezirke dann ohne jede Rücksicht aufgeteilt. Das war nicht natürlich.
Ich habe den Stadtplan aus dieser Zeit noch. Es handelt sich um einen Stadtteil mit dem übersetzten Namen „Dorf des Nordens“, der zwischen zwei Königspalästen liegt. Heute sieht dieses Stadtviertel völlig anders aus. Durch die Modernisierung hat sich alles verändert. Ich hab den Plan auf Stoff übertragen und dann bestickt. Ich zeige dasselbe Stadtvierteil in unterschiedlichen Epochen.“
Natacha Wolters ist ganz begeistert von den gestickten Stadtplänen. „Es ist eine ganz neue Idee in der Textilkunst, in der Stickerei“, sagt sie. „Man zeichnet, ja, man malt bei Sticken. Aber ein Stadtplan ist etwas ganz Besonderes. Ich liebe auch den Titel, den Ihn Sook, diesen Werken gegeben hat: Ville natale – Heimatstadt.“
Ihn Sook Shin Galerie liegt in eben diesem Stadtviertel. Dort stellt sie neben ihren eigenen Arbeiten auch die Werke anderer Künstler aus, die beispielsweise kleine Plastiken zeigen.
Natacha Wolters stellt die Frage, ob die Textilkunst in Korea als „echte“ Kunst betrachtet wird, oder ob, wie in Deutschland, das Textile häufig als Kunsthandwerk bzw. Kunstgewerbe angesehen wird.
„In Korea ist es wie in Frankreich. Ich stehe ziemlich allein, denn ich arbeite wie eine Malerin. Wenn ich mich an einer Ausstellung des Koreanischen Kunstverbandes beteilige, dann findet ich meine Arbeiten immer im Abschnitt Malerei.“
„Sind auch Textilkünstlerinnen Mitglieder in diesem Verband?“
„Ja, es sind wohl 40 oder 50. Es ist aber sehr schwer, in diesen Verband aufgenommen zu werden. Man kann nur Mitglied werden, wenn man Hochschullehrer ist.“
Shin Ihn Sook ist Professorin an der Kunstuniversität von Seoul. Sie unterrichtet dort bereits seit 25 Jahren, inzwischen in der Abteilung ‚Schönheit und Farbe‘. Natacha Wolters bittet Ihn Sook Shin, über die Arbeit dort zu erzählen.
„Vor 12 Jahren habe ich dem Präsidenten der Universität vorgeschlagen, einen neuen Abschluss einzuführen, der eine praktische Fähigkeit umfasst, mit der man seinen Lebensunterhalt verdienen kann, zum Beispiel in den Bereichen Mode, Schönheit, Frisieren, Schminken, Maske für Theater und Kino. Ich finde es enorm wichtig, dass die Absolventinnen einen Beruf haben, von dem sie leben können. Wenn sie nach ihrem Diplom an der Universität keine Arbeit finden, macht das doch keinen Sinn. Meine Vorschläge wurden erst gar nicht gut aufgenommen und ich wurde sogar gefragt, ob ich denn wirklich mein Diplom und meinen Doktortitel in Frankreich erworben habe. Ich war der Ansicht, dass es einen Mentalitätswandel hin zu praktischen Erwägungen brauchte: wie verdienen die Absolventinnen ihren Lebensunterhalt.
Ich habe das schließlich durchgesetzt. Ich unterrichte unter anderem Farbenlehre, Kunstgeschichte, Geschichte des Privatlebens und erstellte dafür umfangreich Skripte. Alle zwei Jahre ändere ich den Lehrplan.
Zwei/drei Mal habe ich schon berühmte Schminkkünstler aus Frankreich eingeladen, beispielsweise aus der Schule von Christian Chauveau. Jedes Jahr bewerben sich etwa 100 junge Menschen auf die 50 Plätze in diesen Studiengängen. Und alle Absolventen finden Arbeit. Mein Konzept ist dann von den anderen koreanischen Universitäten übernommen worden.“
Natacha Wolters weist darauf hin, dass Ihn Sook Shin für ihr innovatives Konzept einen Preis gewonnen hat.
Sie fragt Inh Sook Shin, wie sie vorgeht, wenn sie großformatige Kunstwerke aus Paneelen erstellt. „Entsteht das ganz spontan, oder haben Sie ein Gesamtkonzept?“
„Erst ist da eine Idee und daraus entsteht eine kleine Zeichnung. Meine Arbeiten haben häufig Rahmen und sind rechtwinklig. Ich färbe den Grundstoff ein, dann wähle ich das Material, die Farben und dann beginne ich zu sticken. Ich sticke meist auf Baumwolle, die ich waschen und gut einfärben kann. Wenn es viele Paneele sind, arbeite an einem nach dem anderen. Die Paneele nummeriere ich.
Viele dieser Arbeiten wurden gleich zu Beginn der ersten Ausstellung verkauft. Sie hängen dann in Eingangshallen von Unternehmen oder Banken. Eines hängt als Leihgabe im Gebäude der UNESCO in Paris. Eine Arbeit in blau und gelb wollte ich unbedingt behalten. Aber eine Dame hat sie dann doch gekauft und mir gesagt, ich könne es ja noch einmal sticken. Aber natürlich wäre das einfach nicht dasselbe! Dank dieser guten Verkäufe kann ich schöne Kataloge, Faltblätter und Karten herausgeben.“