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Marion Baruch

Textilien hängen im Raum, an den Wänden, lassen Durchgänge, formen Bilder, Linien, Verbindungen, gestatten Durchblicke, konstruieren Öffnungen. Die Künstlerin Marion Baruch hat sie aus Stoffen gefertigt, die die Reste von Stoffbahnen sind, aus denen Kleidung hergestellt wurde. Sie hatte bereits künstlerisch mit Stoffresten gearbeitet, als sie durch Zufall mit einem in der italienischen Modebranche tätigen Mann ins Gespräch kam. Er gab ihr einen Sack mit Textilresten, die entsorgt werden sollten. Sie waren die Überbleibsel von Schnitteilen aus denen große Modehäuser ihre Produkte schufen. Aus Angst vor Nachahmung werden diese oft verbrannt. Marion Baruch zog sie hervor und ihre filigranen Linien, wie mit dem Pinsel gezogen, kamen zum Vorschein. Als ein Negativ eines Kleidungsstückes, das vielleicht irgendwo auf der Welt getragen wird oder bereits vergangen ist, erzählt es von all dem, was wir sehen und assoziieren, wenn wir dieses Kunstwerk betrachten: Mode, Kapitalismus, Überfluss, Reste… Dabei erinnern die Strukturen auffällig an frühe Kunstwerke, der 1929 im rumänischen Timișoara geborenen Künstlerin, nämlich an jene Ende der 1960er Jahre geschaffenen grossformatigen Skulpturen für Aussenräume. Sie bestanden aus Dreiecken und Rechtecken und Kurven, sich überschneidend und sichtlich nach Benutzung fragend. Kunst oder Gerüst?

Dass dieses Element der Offenheit, der Anregung der Fantasie der Betrachtenden die Kunst von Marion Baruch ausdrückt, mag der Titel der ihr 2020 im Kunstmuseum Luzern gewidmeten Retrospektive erfahrbar machen: innenausseninnen. Dabei ist in dieser Wortschöpfung aussen von beiden Seiten eingefasst durch innen. Das ist nicht so sperrig wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Geht in unserer Wahrnehung der Weg nicht stets von innen nach aussen und dann ins innen zurück, um zu deuten, zu erfassen, zu verbinden?

Marion Baruch hat in all ihren über Jahrzehnte hinweg geschaffenen künstlerischen Arbeit in Italien, Frankreich, Israel, Großbritannien diese Offenheit angewendet, sie bestimmt ihre Auseinandersetzung mit der Welt. Ob sie dabei unter ihrem Namen oder unter dem Namen, des von ihr gegründeten und registrierten Unternehmens NAME DIFFUSION arbeitet oder in Kooperation mit anderen. Diffusion – allein das Wort spielt deutungsmächtig auf den Übergang an, den sie zwischen Kunst und Kommerz schafft, etwa mit den Textilobjekten, die vielleicht Hocker oder Teppich sind. Polemisch ist ihre Kunst keineswegs, sie macht neugierig, lässt suchen, überlegen. Wer die Ausstellung nicht besuchen konnte, dem bietet der parallel zur Luzerner Ausstellung erschienene Katalog die Möglichkeit, das Werk einer Frau zu entdecken, die, wie Nathalie Viot schreibt, als eine „Näherin ohne Faden“, Werke aus einem Gewirr von Fetzen aus Seide, Baumwolle, synthetischen Materialien komponiert – und damit wie im Negativandruck die Welt spiegelt.

«Marion Baruch».
Kunstmuseum Luzern
Edited by Fanni Fetzer and Noah Stolz
Texts by Dana Diminescu, Fanni Fetzer, Beppe Finessi, Martin Herbert, Marie-Claude Jeune, Béatrice Josse, Erwin Kessler, Simone Menegoi, Anne-Marie Morice, Victor Neumann, Francesca Pasini, Michelle Perrot, Noah Stolz, Annabelle Ténèze, Andrea Viliani, Nathalie Viot, and Emma Zanella with Alessandro Castiglioni
Mousse Publishing 2020
ISBN: 978-88-6749-406-4
English, Zusatzheft in deutscher Sprache
232 Seiten
ISBN 978-88-6749-406-4
https://www.moussepublishing.com/?product=/marion-baruch/