Reportagen

Hannah Ryggen – Gewebte Manifeste Eine Ausstellung in der Schirn in Frankfurt am Main

Derzeit und noch bis 12. Januar 2020 wird in einer großen Bandbreite von Themen die stattliche Anzahl von 25 gewebten Wandteppiche von Hannah Ryggen in Deutschland gezeigt. Zu verdanken ist das der Tatsache, dass in diesem Jahr auf der Frankfurter Buchmesse das Land Norwegen der Ehrengast war und die Kunsthalle Schirn dies zum Anlass nahm, die Kunst von Hannah Ryggen in Frankfurt vorzustellen. Zuvor waren in Deutschland nur im Jahr 2012 auf der Documenta 13 schon sieben Werke von ihr zu entdecken. Die Schirn bietet für ihre großformatigen Wandteppiche jetzt den angemessen großzügigen Raum.

Was für eine Künstlerin! Nichts, was Hannah Ryggen in ihrem Leben erreichte und schuf, war ihr in die Wiege gelegt: 1894 als Hanna Jönsson in einem Arbeiterhaushalt im schwedischen Malmö geboren, wurde sie – mit Ermutigung durch ihre Mutter – zunächst Grundschullehrerin, ein Beruf, den sie zwar einige Jahre ausübte, der sie aber nicht zufrieden stellte. Schon zwei Jahre nach Beginn des Berufslebens (1916) fing sie an, in Lund privaten Abendunterricht bei dem Maler Fredrik Krebs zu nehmen. Das bedeutete, dass sie sechs Jahre lang tagsüber in Malmö unterrichtete und anschließend für den Unterricht in akademischer Malerei 20 Kilometer mit dem Zug nach Lund fuhr. Anstoß zu diesem Studium der Malerei hatte die Baltische Ausstellung in Malmö 1914 gegeben, in der Hannah Ryggen die zeitgenössische Kunst entdeckt hatte, darunter die Maler der Künstlergruppe Die Brücke, aber auch Wassily Kandinsky und Alexej von Jawlensky. Ebenso war ihr dort die zeittypische Angewandte Kunst zwischen Kunst und Handwerk begegnet, so wie sie von der englischen Arts-and-Crafts-Bewegung oder der Wiener Werkstätte vertreten wurde, darunter auch Gewebtes, das auf der Baltischen Ausstellung überhaupt stark vertreten war.

Auf Empfehlung ihres Lehrers Fredrik Krebs unternahm Hannah Ryggen im Sommer 1922 eine Studienreise nach Dresden, um in der dortigen Gemäldegalerie die alten Meister zu studieren. Sie lernte dort u.a. Werke von Raffael, Dürer, Jan van Eyck, Velázquez und Poussin kennen. Besonders angetan war sie von Goya und Vermeer, über die sie auch viele Jahre später noch sprach.

In Dresden begegnete Hannah Ryggen ihrem späteren Ehemann, dem norwegischen Maler Hans Ryggen (1894-1956), der hier gemeinsam mit anderen norwegischen Malern studierte. Sehr wahrscheinlich kam Hannah Ryggen über den Lehrer von Hans Ryggen, den Expressionisten Otto Lange (1879-1944), der auch Ornamentik an der staatlichen Kunstschule für Textilindustrie in Plauen unterrichtete und selbst Möbel und Stoffe entwarf, erneut in Kontakt mit Angewandter Kunst. Später berichtete sie, dass sie nicht mehr malen wollte wie ihr Lehrer Krebs, sondern etwas mit den eigenen Händen schaffen. Jedenfalls legte sie sich 1922, nach der Rückkehr nach Malmö, ihren ersten kleinen Webstuhl zu. Sie brachte sich das Weben selbst bei, mit allen damit verbundenen Schwierigkeiten, und war mit den ersten kleinformatigen Arbeiten aus den Jahren 1922 bis 1925 – trotz großer Anstrengung und entsprechender Erschöpfung – ganz und gar nicht zufrieden.

Das änderte sich erst grundlegend, als Hans Ryggen ihr einen eigenen Webstuhl baute, ganz nach ihren Bedürfnissen. Insgesamt brauchte Hannah Ryggen fast zehn Jahre, bis sie die Technik des Webens beherrschte und herausfand, was sie mit ihrer Webkunst erreichen wollte. In dieser Zeit entwickelte sie auch durch vielfältiges Experimentieren das Färben der Wolle mit Naturmaterialien wie Weidenrinde, Vogelkirsche, Kiefernrinde oder Wacholder. Die verwendete Wolle stammte aus der Region.

Inzwischen lebten Hannah und Hans Ryggen, verheiratet seit 1923, auf dem Land in der norwegischen Küstenregion etwa 100 km nordwestlich von Trondheim, Œrlandet, wo Hans Ryggen beheimatet war und auf geerbtem Grund ein Haus für sich und seine Familie baute. 1924 kam die gemeinsame Tochter Mona zur Welt. Die Familie Ryggen lebte dort ohne Strom- und Wasseranschluss und versorgte sich durch Tierhaltung und Obst- und Gemüseanbau auf fünf Hektar Land fast autark. Ein anstrengendes Leben! Aber das Ehepaar Ryggen stand voll hinter diesem Lebensmodell. Nur hin und wieder verdiente Hannah etwas Geld hinzu durch Kurse im Wollefärben und Hans durch den Verkauf von Bildern.

In dieser weltabgeschiedenen Gegend blieben Hannah und Hans Ryggen dem politischen Geschehen in Norwegen, Europa und auf der ganzen Welt doch nah und verbunden – durch den Bezug von Tageszeitungen aus Oslo. Sie waren und blieben inmitten ihrer Tiere, der schweren Feldarbeit und ihrer Kunst teilnehmende und sich politisch positionierende Zeitgenossen während der Weltwirtschaftskrise, des aufkommenden und mächtig werdenden Faschismus, im Zweiten Weltkrieg und in der Nachkriegszeit mit der Auseinandersetzung um den Besitz von Atomwaffen oder –  Jahre später – um den Vietnamkrieg.

Hatte sich Hannah Ryggen in den ersten Jahren in Œrlandet noch mit kleineren Formaten des Webens mehr und mehr kundig gemacht, so ging sie in den 1930er Jahren zu den großen Formaten über, die wir jetzt in der Schirn sehen können. Von dem Wiederaufleben der Monumental- und Freskenmalerei in norwegischen öffentlichen Gebäuden seit den 1910er Jahren inspiriert, fand Hannah Ryggen den Weg, ihre großformatigen gewebten Kunstwerke als politische Statements zu entwickeln und der Welt mitzuteilen. Daher war es ihr auch wichtig, ihre Werke in öffentlichen Gebäuden unterzubringen und sie nicht an private Sammler zu verkaufen.

Erstmals gelang ihr das Verarbeiten von weltpolitischem Geschehen mit dem Bildteppich ‚Fischen im Schuldenmeer’ von 1933, in dem sie die Folgen der Weltwirtschaftskrise, die auch Norwegen traf, verarbeitete. Während im unteren Teil des Teppichs die verschuldeten Menschen ums Überleben kämpfen, sich selbst und die eigenen Kinder über Wasser zu halten versuchen, sind im oberen Teil die von den Banken ausgesandten Schuldeneintreiber zu sehen, die im blutigen Meer der Schulden fischen. Links oben beobachtet ungerührt die Frau des Schuldeneintreibers von einem gut gedeckten Tisch aus das Geschehen.

Nicht wenige Werke zeigen Hannah Ryggens klare Haltung gegen Faschismus und Nationalsozialismus, die sie mit den ihr zur Verfügung stehenden künstlerischen Mitteln zum Ausdruck brachte:
So wandte sie sich mit dem Bildteppich ‚Etiopia’ von 1935 als Statement gegen die völkerrechtswidrige Eroberung Äthiopiens durch Mussolini und seine Truppen (Oktober 1935). Rechts oben sieht man zunächst ein Porträt des äthiopische Kaisers Haile Selassie und daneben einen äthiopischen Soldaten, der Mussolinis Kopf mit einem Speer durchbohrt. Dieses Werk wurde auf der Weltausstellung 1937 in Paris im Pavillon von Norwegen gezeigt – und zensiert durch das Einrollen des Teils auf der rechten Seite mit Mussolinis durchstoßenem Kopf. Die Organisatoren wollten Italiens Regierung nicht brüskieren!

Eine ebenso klare Bildsprache spricht das Werk ‚Tod der Träume’ von 1936: Im mittleren Teil sehen wir Goebbels, Göring und Hitler, wobei Göring mit blutroten Händen einen Gefangenen erwürgt. Im linken Teil des Triptychons ist der deutsche Schriftsteller und Friedensaktivist Carl von Ossietzky als politischer Gefangener in Handschellen mit anderen Gefangenen gezeigt. Er verstarb, drangsaliert und gefoltert, 1938 in der Haft. Hannah Ryggen sah das ‚Ende der Träume’ schon 1936 gekommen. Einen Hoffnungsschimmer lässt sie nur ahnen durch die Gestalt von Albert Einstein mit seiner Geige im rechten Teil, der die Gitterstäbe zu öffnen vermag. Die unteren zwei Drittel des Bildteppichs nimmt ein graphisches Muster in den Farben Grau und Braun ein, das wie ein Vexierbild Hakenkreuze erkennen und verschwinden lässt.

Auch dem deutschen Widerstand widmete Hannah Ryggen ein Werk: ‚Liselotte Herrmann enthauptet’ von 1938. Die deutsche kommunistische Studentin Liselotte Herrmann war zunächst 1933 wegen eines Flugblattes von der Universität verwiesen, schließlich 1935 wegen Landesverrats verhaftet und 1937 zum Tode verurteilt worden. Der Wunsch, vor ihrem Tod ihren 1934 geborenen Sohn noch einmal sehen zu können, wurde ihr nicht nur verwehrt, sondern die Gefängniswärter verhöhnten sie, indem sie Kleidungsstücke des Kindes in ihre Zelle warfen. Hannah Ryggens Bildteppich zeigt diese tragische Geschichte in der Art der Webarbeiten der Volkskunst oder auch von modernen fotografischen Bildreportagen im Verlauf von links nach rechts: Das Bild von Mutter und Kind, als Lilo Herrmann noch frei war – inspiriert vom klassischen Motiv der ‚Madonna im Rosenhaag’ -, rechts oben daran anschließend das Gefängnis, mit dem wartenden Henker. Unten in der Mitte der drohende blutrote Fußabdruck, der nach rechts weist, wo die Gefangene vor dem Gang zum Schafott verzweifelt die Kinderkleidung an sich drückt.

Nicht alle politischen Bildteppiche können hier einzeln vorgestellt werden, aber zumindest eine Arbeit mit Bezug auf Norwegen sollte auch dabei sein: ‚6. Oktober 1942’ von 1943. Das Ehepaar Ryggen war von der Besetzung Norwegens durch das nationalsozialistische Deutschland im April 1940 insofern unmittelbar betroffen, als Œrlandet zur Flugbasis der Besatzer gemacht und dort zudem ein Gefangenenlager errichtet wurde. Sie wurden Zeugen von vielen Grausamkeiten im Lager. Hannah Ryggens Komposition von 1943 greift mehrere Ereignisse aus dieser Zeit auf. Der linke Teil zeigt die Hinrichtung des Schauspielers, Schauspieldirektors und Widerstandskämpfers Henry Gleditsch, der erschossen in den Armen seiner Frau liegt. Reichskommissar Josef Terboven hatte ihn als sogenanntes ‚Versöhnungsopfer’ ausgewählt und als Tag der Hinrichtung den Vortag der Premiere der ‚Wildente’ von Henrik Ibsen festgelegt. Daher tragen Henry Gleditsch und seine Frau Theaterkostüme. Über ihnen schwebt Hitler mit gezückter Pistole, der umschwirrt wird vom Schriftsteller Knut Hamsun, Sympathisant der Nazis, und dem von Hitler eingesetzten Premierminister Vidkun Quisling, beide als unheilvoll-schwarze Vögel dargestellt. Die rechte Seite phantasiert die Flucht der Familie Ryggen mit einem Boot, von oben bedroht von drei finsteren Gestalten, die an die drei Nazi-Mörder aus der Mitte des Bildteppichs ‚Tod de Träume’ erinnern. Ins Zentrum des Bildteppichs hat Hannah Ryggen Winston Churchill platziert, der von einem Turm aus über sein Land wacht. Vielleicht ein Wunsch der Künstlerin, dass Norwegen ebenso bewacht worden wäre?

Hannah Ryggen verarbeitete auch sozialpolitische Themen, wofür als ein besonders schönes Beispiel der Bildteppich ‚Unverheiratete Mutter’ von 1937 stehen kann. Entgegen der damals fest etablierten Vorstellung, dass eine ledige Mutter, die sich und ihr Kind „anständig“ eigentlich nur durch Heimarbeit ernähren konnte, nur eine traurige, verhärmte Gestalt sein könne, zeigte sie eine Gegenwelt: Die ledige Mutter in der Mitte des Bildteppichs gibt – ganz heiter und gelassen – ihrem Kind ein Stückchen Stoff zum Spielen, einen Rest des rosa-roten geblümten Stoffes, aus dem sie gerade Kleidungsstücke näht. Eine fertige Jacke hängt über dem Stuhl. Die finsteren Gestalten auf beiden Seiten des Triptychons bleiben ausgesperrt aus dieser Lebenswelt.

Das Muttersein findet sich auch unter den Kunstwerken von Hannah Ryggen, die Privates thematisieren. Es geht um ihre eigene Mutterschaft in dem Bildteppich ‚Mutterherz’ von 1947. Sie zeigt hier in hauptsächlich roten und rosafarbenen Farbtönen das Schwanken zwischen übergroßer Freude, ein Kind zu haben, auf der linken Seite und schmerzlicher Erfahrung mit ihrer kranken Tochter auf der rechten Seite. Mona litt seit der Pubertät unter Epilepsie, die damals nicht richtig diagnostiziert und behandelt werden konnte. Auch die nicht einfache Beziehung zu ihrer eigenen Mutter, die schon 1930 verstorben war, klingt an.

Einen tiefen Einblick in die eigenen seelischen Nöte gibt auch das Kunstwerk ‚Die Sänfte’ von 1959, in dem Hannah Ryggen die Trauer um ihren 1956 verstorbenen Ehemann zum Ausdruck bringt. Diese Liebeserklärung in vorwiegend blauen, lila und braunen Farbtönen zeigt, wie sie selbst und ihre Tochter Hans Ryggen zur letzten Ruhe tragen. Er thront mit seiner Palette und dem Pinsel in der Hand, umgeben ringsum von weißen Blumen, auf einer Sänfte. Rechts hinter ihm leuchtet als Symbol der Liebe eine große rote Rose.

Die große Vielfältigkeit von Hannah Ryggens Kunst lässt sich an zwei weiteren Arbeiten aufzeigen:
Das einzige größere abstrakte Werk lernen wir mit dem Bildteppich ‚Unwetter’ von 1928 kennen, das die Stimmung kurz vor dem Ausbrechen des Unwetters einfängt. Zu dieser Zeit war Hannah Ryggen noch eine Suchende, die viel ausprobierte. Da sie sich nicht weiter mit abstrakten Werken befasste, nimmt dieses eine besondere Stellung im Gesamtwerk ein.

Ebenso ganz und gar verschieden von den bisher vorgestellten Arbeiten ist der Wandteppich ‚Das goldenen Lamm Iselin’ von 1935. Wie auf einer Bühne steht eine junge attraktive und elegante Frau, rauchend und kokett dem Zuschauer zugedreht, während hinter ihr ein etwas zerknitterter älterer Herr im Schlafanzug verlegen auf die Seite schaut. Es soll sich um eine Liebschaft zwischen einer 19-Jährigen namens Iselin und einen reichen Schiffsreeder von 47 Jahren gehandelt haben, aus dem Umfeld von Hannah Ryggen. 1935 heirateten die beiden. Der Reeder kaufte – ohne Wissen von Hannah Ryggen – den Bildteppich, der noch im Jahr 1935 im Künstlerbund in Oslo ausgestellt wurde. 1939 beging Iselin Selbstmord. Abgesehen von dieser dramatischen und auch rätselhaften Geschichte fällt bei diesem Kunstwerk im Gegensatz zu den anderen Werken ein sehr modischer Akzent auf, so z. B. bei dem schwarzen Kleid von Iselin oder dem Teppich mit einem ornamentalen Muster in hellem Naturton mit Rosé.

Hannah Ryggen stellte sich auf ihren Bildteppichen auch immer wieder selbst dar. Zwei ihrer Selbstporträts sollen den Rundgang durch diese sehr sehenswerte Ausstellung abschließen.

Es gibt viel zu entdecken in dieser Ausstellung in Frankfurt mit Werken einer außergewöhnlichen Künstlerin, die es zu würdigen gilt. Scheuen Sie nicht den Weg – es lohnt sich!

Informationen zum Besuch der Ausstellung:
Die Ausstellung läuft noch bis 12. Januar 2020.
Adresse:  Schirn Kunsthalle Frankfurt, Römerberg, 60311 Frankfurt/Main
Geöffnet:  Di, Frei bis So: 10 bis 19 Uhr
Mi und Do: 10 bis 22 Uhr
Barrierefreier Zugang; Museumcafé vorhanden.

 

Mit Ausnahme des Bildes vom Ehepaar Ryggen sind alle Bilder von Birgit Ströbel.