Reportagen

Ein textiler «Rückblick» ins Elternhaus von Christine Läubli, 13. – 26.11.2022

Bevor mein Elternhaus in Winterthur (Schweiz) verkauft wurde, nutzte ich die Räume für einen Rückblick auf mein textiles Werk, das über die Jahre entstanden war. Einige Arbeiten hatte man schon anderswo sehen können, andere stellte ich hier zum ersten Mal aus, und auch neueste Werke waren dabei.
Das Haus hatten wir 1965 bezogen. Meine Eltern haben während fast sechzig Jahren darin gewohnt und fast nichts geändert.

Abb. 1 Vor der Eingangstüre: «gedankenwaldgewächse», 2021, Wollknäuel auf Haselstecken. Die gesamte Installation mit 73 Objekten war 2021 an der Landart in Engelberg (CH) zu sehen gewesen.

Schon beim Einrichten meldeten sich Erinnerungen und alte Geschichten, und ich merkte, dass dies eine spezielle Ausstellung würde. Ich brauchte einige Überwindung, den intimen Ort für ein Publikum zu öffnen, denn es war nicht leicht, die Balance zwischen «Was zeige ich?» und «Was ist zu privat?» zu finden. Manchmal erschrak ich über meinen eigenen Mut. Und es wurde rasch klar: Dies würde nicht nur ein Rückblick auf mein Werk werden, sondern auch einer auf eine mir nah stehende, in Kürze verschwindende Welt.

Abb. 2 «we are our own story», 2018, Papier. Foto: Urs Müller

Ein Elternhaus ist keine Galerie, sondern ein Ort mit Lebensspuren und Geschichten. Diese wollte ich aufnehmen. So gestaltete ich die Zimmer nach ihnen entsprechenden Themen.

Abb. 3 Blick in den Flur. Ganz Links: «Tüchlein der Gänsemagd».
Mitte: «grauer alltag», 2022, Alltagstextilien, bestickt mit Baumwollgarn.
Rechts: «bodil 1», 2022, Handtuch aus der Aussteuer meiner Mutter, mit Baumwollgarn bestickt. Foto: Urs Müller

Beim Eingang hing «das tüchlein der gänsemagd», das ich aus Toilettenpapier und Nähfaden gestaltet hatte. Nach dem Tod meiner Mutter beschäftigte mich das Thema, was die Mutter der Tochter mitgibt, und was diese damit macht. Die Gänsemagd ist ein Märchen der Gebrüder Grimm.

Abb. 4 das tüchlein der gänsemagd, 2022, Toilettenpapier und Nähfaden

Im Wirtschaftsraum lagen stapelweise von mir gewebte Handtücher, die aus meiner Textildesignzeit stammen.

Abb. 5 Wirtschaftsraum, Foto: Urs Müller

Im Studierzimmer hatte mein Vater bis spät in die Nacht gearbeitet; das Geklapper der Schreibmaschine war mein Einschlafgeräusch. So war es stimmig, hier Werke rund ums Thema «Schrift» auszustellen.

Abb. 6 «das flüstern der stalaktiten», 2020, Transparentpapier, Nähfaden
Abb. 7 «auf-schrift», 2020, Baumwollstoff, mit Monotypie bedruckt und teilweise bestickt

Im Wohn- und Esszimmer hingen drei Werke der Serie «farben des waldes», für die ich Fotos mit Alpaca und Seide verwebt hatte, ausserdem «steinschrift» aus selber geschöpftem Papier, das ich mit schriftartigen Zeichen bestickt hatte.

Abb. 8 Blick ins Wohnzimmer. Links: «farben des waldes 1», 2017, «we are our own story», 2018, «steinschrift», 2022, «farben des waldes 4», 2022. Foto: Urs Müller

Ich hatte mich in den letzten Jahren intensiv mit dem Material Landkarten beschäftigt. An der Wand zwischen Wohn- und Esszimmer waren links «wegknäuel» und rechts «timschal» platziert. Das Wort timschal ist hebräisch und bedeutet «du kannst, du magst»: Du kannst dich für das Gute oder das Böse entscheiden, du hast die Wahl. (siehe John Steinbeck «Jenseits von Eden»). Meine Arbeit «timschal» ist ein Gewebe aus Seide und Atlasseitenstreifen, auf die ich mit einer Schuhsohle ein blumenartiges Muster aufgedruckt habe.

Abb. 9 Vom Wohnzimmer ins Esszimmer: links «wegknäuel», 2021, Schweizerkarte, Nähfaden. Rechts «timschal», 2022. Foto: Urs Müller

Im Esszimmer präsentierte ich weitere Werke aus Landkarten, u. a. die «geträumten landschaften» aus blau eingefärbten Landkarten, die ich, inspiriert von der japanischen Technik Sashiko, mit Baumwolle bestickt hatte.

Abb. 10 geträumte landschaft, 2021. Foto: Urs Müller
Abb. 11 eine einzelne «geträumte landschaft». Foto: Urs Müller

Am Fuss der Treppe in den oberen Stock hing «beziehung», ein grosses Gewebe aus Seide. Es besteht aus zwei Bahnen, die sich in einem goldenen Muster vereinen.

Abb. 12 beziehung, 2013

Im Bad gab es eine Hosenwäsche: Über mehrere Wochen hatte ich jeden Morgen meine Jeans gezeichnet, so wie sie auf dem Stuhl lagen. Die Zeichnungen übertrug ich mittels Monotypie auf Farbfangtüchlein. (Diese legt man aus Bunt und Weiss gemischten Waschmaschineladungen bei, damit sich die Wäsche nicht verfärbt.)

Abb. 13 hosenwäsche über der Badewanne, 2022. Foto: Urs Müller
Abb. 14 ein einzelnes Bild aus der «hosenwäsche»

Im Kastenraum, einer Abstellkammer, hatte ich eine Frauenecke eingerichtet. Das Werk «allmählich werden wir unsichtbar» sprach viele Frauen an: Werden wir im Alter wirklich unsichtbar?

Abb. 15 allmählich werden wir unsichtbar, 2021, Transparentpapier, Nähfaden

Das Zimmer meiner Schwester enthielt die Installation «entschlüpft» aus Toilettenpapier und Nähfaden, sowie acht Bilder der Serie «fragile». Für diese Reihe hatte ich Bilder von Spitzen aus der Sammlung Iklé des Textilmuseums St. Gallen auf Zeichnungspapier kopiert, die Linien mit der Nähmaschine nachgenäht und das Papier anschliessend ins Wasser gegeben. Beim Auffalten lösten sich einzelne Stücke aus der Arbeit, und es entstand eine transformierte Spitze.

Abb. 16 Zimmer meiner Schwester mit der Bildserie «fragile», 2020
Abb. 17 fragile 4, 2020, Papier, Nähfaden. Foto: Urs Müller
Abb. 18 entschlüpft, 2022, Toilettenpapier, Nähfaden

In meinem ehemaligen Zimmer zeigte ich alte Arbeiten aus meiner Kindheit, die ich im Nachlass meiner Eltern gefunden hatte, Collage-Bücher aus meiner Zeit als junge Mutter und – anknüpfend an das Bild «tüchlein der gänsemagd» – die Serie «brautschatz» – eines meiner neuesten Werke.

Abb. 19 mein Zimmer. Foto: Urs Müller
Abb. 20 brautschatz, 2022, Toilettenpapier, Nähfaden
Abb. 21 aus einem der Collagebücher, frühe 1980er Jahre

Das Elternschlafzimmer präsentierte eine Arbeit, die ich im Rahmen einer Gruppenausstellung zu einem griechischen Märchen gemacht hatte: Eine Prinzessin muss ihre Familie verlassen, weil sie mit ihrem schlimmen Schicksal das Leben ihrer Schwestern behindert. Die Mutter gibt ihr einen Mantel mit eingenähten Dukaten mit. In einem Schloss arbeitet die Königstochter als Stickerin, doch die Ahnen kommen jede Nacht von den Wänden herunter und zerstören ihre Stickereien.

Abb. 22 mitgift, 2016, Seide, Alpaca. Foto: Urs Müller
Abb. 23 ahninnen, 2017, Leinen und Metallicgarn, Liquid-Light-Verfahren. Foto: Urs Müller

Auch im Zimmer meines Bruders war eine Arbeit zu sehen, die für eine Gruppenausstellung entstanden war. Ich hatte mit meiner Schwägerin Susanna Hildenbrand das Thema «Salat» bearbeitet.

Abb. 24 Salatprojekt mit der Schwägerin, 2020, Wollcrêpe, Baumwolle, Leinen / Fotos an den Wänden: Susanna Hildenbrand. Foto: Urs Müller

Das Publikum schätzte die besondere Atmosphäre im Privathaus und liess sich durch das Gesamtkunstwerk «Elternhaus – textile Werke» tief berühren. Eine Besucherin meinte, ich füllte die Räume noch einmal mit Leben und Wärme. Die Ausstellung ermöglichte es mir, mein Werk in einer Breite zu zeigen, die ich sonst nicht zur Verfügung habe. So gestaltete sich der Abschied von meinem Elternhaus nicht nur wehmütig, sondern auch tröstlich.

Abb. 25 Wegknäuel, 2021, Landkarte, Nähfaden, 2021