Portraits & Interviews

Zu Besuch im Atelier von Julia Lange: ‚teenytiny’

Bei einem Bummel durch die Windscheidstraße in Berlin-Charlottenburg kommt man an Cafés und Bistros, einem privaten Kino, einer Galerie mit modernem Antiquariat… und irgendwann auch an Julia Langes Werkstatt und Ladengeschäft ‚teenytiny’ vorbei. Die Prinzessin und der Froschkönig auf der Bank vor dem Laden schauen so freundlich in die Welt, dass man stehen bleibt und neugierig wird. Wer wohnt hier noch außer den beiden? Später weiß ich es: Krista und Charlie, Lolita, Leopold, Ratze, Erich und Maxwell, Martin und Baby Martin, Philippa, Ella und andere mehr. Die Prinzessin heißt übrigens ‚Elisa’ und der Froschkönig ’Camomille’ – wer hätte das gedacht.

Die Frau hinter all diesen charaktervollen und wollweichen Figuren ist Julia Lange. Sie entwirft sie, entwickelt den passenden Wollstoff dazu, der für jede Figur eigens auf einer Strickmaschine hergestellt wird, und bedenkt zudem alle Feinheiten wie Augen, Ohren, Schnäuzchen/Schnabel, Füße (Schühchen, Socken?), aber vor allem: wie guckt der/die denn?

Auf meine Frage, wie es dazu kam, dass sie heute diese ausdrucksstarken Gestalten kreiert, antwortet sie mir: „Das war ein langer Weg.“ – Angefangen hat dieser Weg mit einem Diplom für Modedesign nach einem 5-jährigen Studium, das auch Schnittentwicklung und Konstruktion einschloss, an der Hochschule für Künste in Bremen. Für ein halbes Jahr lernte sie in Hamburg industrielle Textilproduktion kennen – es war nicht das Richtige. Nach einer Bewerbung bei mehreren Designern der London Fashion Design erhielt sie zwei Angebote, eines von Alexander McQueen und eines von Justin OH (Menswear and Womenswear). Sie entschied sich, bei Justin OH als Assistentin anzufangen. Obwohl durch die Terroranschläge am 11. September 2001 in New York die Modewelt in London zum Stillstand kam, blieb sie noch ein Jahr dort. Danach wechselte Julia lange zu dem Taschenlabel Jas M.B. in Ilford bei London. Die drei Jahre dort, in einer multinationalen Belegschaft inmitten der indischen Community, brachte sie erstmals in Kontakt mit internationalen Kunden wie Galeries Lafayette in Paris oder Barneys in New York.

Schon in dieser Zeit, erzählt mir Julia Lange, beschäftigte sie sich mit der Idee, sich selbständig zu machen. Aber es fehlte noch am dafür notwendigen Kapital. Dafür wollte sie zuerst sorgen. Vermittelt durch eine Zeitarbeitsagentur arbeitete sie zunächst bei einer Schweizer Bank in London und konnte dann aufgrund eines Angebotes in ein Team einer Investitionsbank wechseln; hier wurden deutsche Kunden in London betreut. In den drei Jahren, die sie dort blieb, begann sie schon damit, ihre Selbständigkeit nach und nach aufzubauen: Es ging um die Entwicklung und Herstellung von gehäkelter Kinderkleidung und gehäkelten Tiere. Da es keine Häkelmaschinen gibt, ist die Herstellung solcher Textilien auf Handarbeit angewiesen. Durch die Vermittlung eines Produzenten aus Peru, den Julia Lange auf der Pariser Kindermodemesse ‚Playtime’ kennenlernte, konnte sie in Peru ihre Modelle herstellen lassen. Da sie mit den Arbeits-und Herstellungsbedingungen in Peru, die sie selbst auch in Augenschein nahm, jedoch nicht einverstanden sein konnte, gab sie dieses Projekt nach zwei Jahren ganz auf.

Da es für die Technik des Strickens Maschinen gibt, war die rettende Idee für das Selbständig-Werden, die Umstellung vom Häkeln zum Stricken – und damit sind wir schon einen großen Schritt näher an dem, was wir heute in Julia Langes Werkstatt-Laden sehen können.

Da das Leben manchmal große Stolpersteine hinwirft, wurde Julia Lange mit einer schweren Augenkrankheit konfrontiert, die zunächst vieles in Frage stellte. Um wieder Tritt zu fassen und die Herstellung von gestrickter Kinderkleidung und gestrickten Tieren auszuloten, ging sie für ein Jahr nach Bergerac in Frankreich. Ein Neuanfang. Um einen besseren Standort für Präsentation und Vertrieb zu gewinnen, fiel dann die Entscheidung für Berlin.

Die Berliner Zeit begann in Erkner, ging bald weiter mit einem Atelier in der Rummelsburger Bucht und Leben auf einem Hausboot für drei Jahre. Inzwischen entstanden im Atelier ausschließlich gestrickte Tiere und weitere ansprechende Gestalten, wie wir sie heute im Atelier sehen können.

Den schönen Laden mit Atelier, den wir heute besuchen können, hat Julia Lange ‚zufällig’ oder auch mit ‚glücklicher Fügung’ bei einer Präsentation ihrer Kollektion in der Windscheidstraße entdeckt. Seit 2014 ist sie jetzt dort mit der Werkstatt und dem Ladengeschäft gut beheimatet: Es passt genau – den Eindruck hat zumindest die Besucherin des Ladens, so stimmig und angenehm ist die Atmosphäre dort.

Gemeinsam mit zwei Angestellten stellt heute Julia Lange hier ihre Soft-art-Kreationen her und das in allen Schritten des Herstellungsprozesses: Das Entwerfen, das Stricken und Nähen, das Versäubern nach dem Füllen. Als ich Juli Lange nach der Inspiration für die einzelnen Figuren frage, antwortet sie mir, dass das beim Zeichnen geschieht und vom Herz über den Kopf in die Verwirklichung fließt. Danach gibt es einige Fragen zu klären: Wie groß soll die Figur sein? Welches Muster und welche Farben sind die passenden? Wie soll es gestrickt sein? Sie fertigt dann selbst ein Modell, einen Prototyp an. Wenn alles daran stimmt, dann kann die Produktion beginnen. Auf Wunsch werden für KundInnen auch Einzelstücke auf Bestellung hergestellt.

Ich bin ganz fasziniert von den Farben der Garnspulen, die neben der Strickmaschine aufgebaut sind. Die Farben und ihre jeweilige Kombination spielen eine entscheidende Rolle, damit jeder Stoff, dessen Muster auf der Strickmaschine durch vorfabrizierte Lochkarten festgelegt wird, wieder anders aussieht. Wichtig ist Julia Lange, dass die Baumwolle aus kontrolliert biologischem Anbau (k.b.A.) stammt und durch ein biologisches Verfahren gefärbt wird (nach GOTS = Global Organic Textile Standard). Die Füllung der Figuren besteht aus Naturmaterialien: Maisfasern und Schurwolle.

Der lange kreative Prozess und die sorgsame Herstellung der Figuren tragen Früchte: Julia Lange hat Erfolg damit und verkauft sie nicht nur in ihrem Ladengeschäft, sondern in Museumsshops so bekannter Museen wie dem Städel in Frankfurt/Main, dem Louisiana Museum in Humlebaek bei Kopenhagen oder dem Museum Barberini in Potsdam. Für den Städel hat sie auf Wunsch des Museums für die Van-Gogh-Ausstellung im vergangenen Jahr eine Van-Gogh-Figur entwickelt, die sich dann sehr gut verkaufte. Früher zeigte Julia Lange ihre Kreationen auch auf Messen, wie z. B. der ‚Maison & Objet’ in Paris, kam davon aber weitgehend ab. Sie denkt heute, sie sei eher kein ‚Messe-Typ’ und schätzt viel mehr den direkten Kundenkontakt. Da Kunden auch verloren gehen, macht sich Julia Lange immer wieder auf den Weg mit ihrem Koffer, der gefüllt ist mit Krista und Charlie, Lolita, Leopold, Ratze, Erich und Maxwell, Martin und Baby Martin, Philippa, Ella und all den anderen, um neue Kunden zu gewinnen.

Wenn man in der Windscheidstraße im Ladengeschäft steht – Auge in Auge mit den Bewohnern der rechten Wand – wird verständlich, dass das mit der Kunden-Acquise immer wieder klappt!

Teenytiny
Windscheidstrasse 15
10627 Berlin
https://teenytiny.de/

Alle Bilder wurden von Birgit Ströbel aufgenommen.