Portraits & Interviews

Interview mit Yumiko Umeda

Yumiko Umeda kreiert textile Kalligraphien mit antiken Kimono-Stoffen. Auf einen Hintergrund aus alten Seidenstoffen appliziert sie ein kalligraphiertes Wort. Ich konnte sie dazu befragen.

Wo und wann haben Sie Kalligraphie gelernt?

Zwischen dem Alter von 5 bis 12 hatte ich in Japan Kalligraphieunterricht. Es gab ein paar Mal im Jahr Wettbewerbe, und vor einem Wettbewerb übte ich jeden Tag zu Hause immer wieder die gleichen Worte.
Ich war sehr beeindruckt von der Gewinnerarbeit eines der Wettbewerbe, die ich im Alter von 6 Jahren gesehen habe. Es ist bis heute die schönste Kalligraphiearbeit für mich, und bleibt in mir. Diese Kalligraphie wurde für mich zur Grundlage. Wenn ich arbeite, denke ich über die Bedeutung der Worte nach, projiziere Emotionen und drücke sie aus.

Haben Sie sich immer für Textiles interessiert?

Ja. Durch den Einfluss meiner Mutter, die früher Schneiderin war, hatte ich schon als Kind aus Spaß verschiedene Dinge mit der alten Fußpedalnähmaschine meiner Mutter genäht. Vor etwa 20 Jahren, als ich in der Bekleidungsabteilung eines japanischen Unternehmens arbeitete, wollte ich, weil ich umgeben von Kleidung und Stoffen war, auch wieder etwas selbst machen, also kaufte ich mir eine Nähmaschine. Von da an fing ich an, neue Dinge machen und nähte nützliche Alltagsgegenstände wie selbst entworfene Taschen, Kinderkleidung, Pochetten (kleine Handtaschen) und vieles mehr. Sogar jetzt, anstatt zwischendurch eine Tasse Kaffee zu trinken, nähe ich und mache etwas ganz anderes, um den Kopf frei zu bekommen.

Welche Art von Kleidern hat Ihre Mutter aus alten Kimono-Stoffen genäht?

Sie hat alles gemacht, außer Hüte. Sie fertigte Kleider, Zweiteiler, Blusen, Hosen und Mäntel aus Seidenstoffen. Aus Baumwoll-(Yukata)-Geweben fertigte sie Vaters Pyjamas und Freizeitkleidung, und aus Kleidung mit verfleckten Mustern nähte sie Schürzenkleider und modische Overalls fürs Kochen.

Haben Sie auch andere textile Techniken wie Patchwork oder Quilting praktiziert?

Als ich in Australien lebte, traf ich eine Frau, die der Sashiko machte. Als Japanerin kannte ich natürlich Sashiko-Sticken, hatte aber nie vorher gesehen, wie schön das ist, und wollte es nie selbst ausprobieren. Ich dachte, ich könnte vielleicht etwas Neues entdecken, also übte ich allein und versuchte, Sashiko-Sticken in meine „Kalligraphie“ zu integrieren. Das Ergebnis war aber nicht so, wie ich es mir vorgestellt hatte, also habe ich es aufgegeben.

Wie sind Sie auf die Idee gekommen, Textiles mit Kalligraphie zu kombinieren?

Zuerst habe ich gestrickt. Für mich sahen meine gescheiterten Versuche, Zopfmuster zu stricken, aus wie Buchstaben. In diesem Moment dachte ich: „Ich möchte Kalligraphie machen, nicht schreiben.“  Bis dahin war ich nicht am Stricken interessiert und hatte es kaum ausprobiert, also begann ich aus Büchern und YouTube-Videos zu lernen. Ich habe vier Monate gebraucht, um das Wort „Herz“ zu vervollständigen. Ich begann sofort mit der Arbeit an der nächsten Figur, „Blume“, aber ich konnte die Linien, die sich vertikal kreuzen, nicht stricken, und nach anderthalb Monaten war ich gezwungen, aufzugeben.
Damals machte eine große Bastelzubehör-Kette einen Fingerpuppenwettbewerb und erstaunlicherweise gewann ich eine Nähmaschine, so dass sich meine Idee, „Kalligraphie zu machen“, natürlich zur Näh-Kalligraphie entwickelte.

Zu diesem Zeitpunkt dachte ich zum ersten Mal daran, alte Kimonostoffe zu verwenden. Zuerst hatte ich nicht die Absicht, daraus Bildern zu machen. Ich dachte nur an drei Dinge: Taschen, Kissen und Wandbehänge. Da alte Stoffe jedoch empfindlich und nicht robust genug sind, sind sie für Taschen und Kissen weniger geeignet. Auch Tapisserien werden staubig und beginnen muffig zu riechen, wenn sie lange an der Wand hängen.

Zu dieser Zeit stieß ich auf die Arbeit der Textildesignerin Christine Lethlean (https://margieandbert.com/about-me/about/). Ich fand Christines Konzept, ihr Bewusstsein für die Gefahren der modernen Wegwerf-Mentalität interessant und fühlte mich mit ihr verbunden, weil sie Stoffstücke wiederverwendet, die normalerweise weggeworfen werden. Also meldete ich mich sofort an und besuchte einen ihrer Workshops. Ich war mit dem Quilten nicht vertraut. Ich lernte bei ihr das Freihand-Zeichnen mit der Nähmaschine und Raw-Edge-Applique.

Nachdem ich diese Techniken gelernt hatte und mich von ihrem hohen künstlerischen Anspruch hatte inspirieren lassen, befasste ich mich sofort wieder mit dem „Kreieren von Kalligraphie“. Aber Christines Arbeiten sind alle aus Baumwolle. Ich konnte alte Kimono-Stoffe nicht auf die gleiche Weise nutzen. Ich konnte eine vage Richtung erkennen, aber ich war immer noch auf der Suche nach einem klaren Konzept.
Zu dieser Zeit zog ich nach Berlin. Gleich nach meiner Ankunft sah ich viele verschiedene Kunstwerke, besuchte zahlreiche Kunstmärkte und experimentierte weiter. Wie wäre es mit der Kombination typischer europäischer Materialien? Ich versuchte, antike gehäkelte Spitze, Leder, Denim und alte Bücher zu verwenden.

Gerade als ich darüber nachdachte, aufzugeben und etwas anderes auszuprobieren, wurde ich eingeladen, bei der TEXTILE ART BERLIN auszustellen. Es war weniger als zwei Monate vor der Veranstaltung, aber ohne zu zögern stimmte ich der Teilnahme zu. Die Worte „TEXTILE ART“ öffneten mir die Augen. Bis dahin dachte ich, ich mache Kunsthandwerk. Plötzlich wurde mir klar, dass es Kunst sein kann, dass meine Arbeit meine Gefühle ausdrücken kann, und so kam ich auf Kimono-Kalligraphie. Das war bei der TEXTILE ART BERLIN 2018.

Warum verwenden Sie antike Kimono-Stoffe? Wir haben oft gehört, dass TextilkünstlerInnen in Japan nicht gern mit gebrauchten Stoffen arbeiten.

Im Jahr 2014 verließ ich Japan wegen der Arbeit meines Mannes, lebte zwei Jahre lang in Hongkong und zog dann nach Australien. Kontinentalaustralien, das ein ganz besonderes Ökosystem hat, legt großen Wert auf Naturschutz. In den Städten entlang der schönen Strände war das Thema Müll, der das Meer verschmutzt, oft Thema von Gesprächen. Außerdem arbeitete ich ehrenamtlich in einem Second-Hand-Laden, was meine Denkweise stark veränderte. Viele Dinge, die nicht mehr benötigt wurden, wurden jeden Tag in den Laden gebracht. Ich sah viele verschiedene Dinge, einige waren neu, andere wurden mit Sorgfalt verwendet, und ich fühlte viele verschiedene Emotionen. Überall auf der Welt, auch in diesem Moment, werden Unmengen von Dingen hergestellt und Unmengen von Dingen weggeworfen. Ich fing an, mich unwohl zu fühlen, wenn ich Massenprodukte kaufte, mit denen ich Dinge machen konnte.

Damals erinnerte ich mich daran, dass meine Mutter immer (westliche) Kleidung aus alten Kimonostoffen genäht hatte. Laut meiner Mutter begann vor etwa 30 Jahren in Japan ein Trend zur Wiederverwendung alter Stoffe und das „Upcycling“ alter Kimonostoffe zur Herstellung westlicher Kleidung wurde populär. Meine Mutter selbst besaß viele Kimonos, trug sie aber kaum. Sie lagen gefaltet in ihrer Truhe. Also begann sie darüber nachzudenken, wie man diese Kimonos für etwas anderes benutzen konnte. Sie hatte ihren Abschluss als Schneiderin gemacht, deshalb konnte sie entwerfen, Schnittmuster erstellen, gestalten und nähen. Sie frischte ihr Können auf und setzte es wieder ein. Da es dem damals populären Trend entsprach, erhielt sie eine Reihe von Aufträgen und konnte einige ihrer Arbeiten auf Ausstellungen zeigen. In den letzten Jahren hat der Trend nachgelassen und auch der Wert seltener alter Stoffe hat zugenommen, so dass es heute schwierig ist, zu günstigen Preisen reine Seiden-Kimonostoffe in gutem Zustand  zu kaufen.

Ein Kimono ist ein Kleidungsstück, das immer wieder umgearbeitet werden kann. Reine Seide wird mit zunehmendem Gebrauch weicher, und mit zunehmendem Alter beginnt sich die Textur differenzierter anfühlen. Früher war es in Japan üblich, einen Kimono lange Zeit schonend zu tragen. Kimonos wurden von Müttern an ihre Töchter weitergegeben. Jetzt möchte ich weiterhin Respekt vor diesen alten Stoffen zeigen und behutsam Werke aus ihnen machen, eines nach dem anderen.

Könnten Sie Ihre Art und Weise beschreiben, wie Sie eine Kimono-Kalligraphie erstellen, von der ersten Inspiration bis zum fertigen Stück?

Wenn ich weiß, welches Wort ich schaffen möchte, schreibe ich zuerst die Kalligraphie. Danach erstelle ich den Hintergrund, aber manchmal funktioniert es nicht so reibungslos. Schon jetzt warten einige Kalligraphien auf ihre Hintergründe. Deshalb erstelle ich oft zuerst den Hintergrund. Dann schaue ich mir den fertigen Hintergrund an und lasse mich inspirieren, Wörter auszuwählen und eine Kalligraphie dafür zu schreiben.
Selbst wenn der Hintergrund so geworden ist, wie ich es beabsichtigt habe, kann, wenn ich eine Kalligraphie darauf setze, das Hintergrundmuster und die Farbe, die ich wollte, versteckt oder verzerrt werden. Deshalb muss ich manchmal die Worte ändern und ein Hintergrund wartet auf seine Kalligraphie.
Ich lege schwarzen Kimonostoff auf den Hintergrund und bringe die schriftliche Kalligraphie dahinter an. Dann drehe ich das Stück um und nähe die Kalligraphie-Linien freihand. Dann schneide ich den schwarzen Stoff außerhalb der Naht ab. Danach nähe ich mit weißem Faden Pinselstriche auf. Dieser Prozess ist der nervenaufreibendste. Wenn es mir nicht gelingt, die gewünschten Linien zu zeichnen, wird es nicht zu einem fertigen Kunstwerk. Es gibt auch andere Techniken, mit denen ich die Arbeit schön mache.

Die kalligraphischen Zeichen in Ihren Werken sind nicht nur Buchstaben, was ist ihre Bedeutung?

In mir steckt eine schöne Kalligraphie, die ich seit meiner Kindheit schätze. Wenn mein Kopf nicht frei ist, kann ich vielleicht keine schöne Kalligraphie schreiben. Interessanterweise fühle ich mich sofort ruhiger, wenn ich einen Pinsel halte.  Auf Japanisch sind Wörter mit „do“ (道 – Art des Seins), wie z.B. Judo, Kendo, etc. auch mentale Disziplinen.
Ich denke über die Bedeutung der Worte nach und kombiniere sie mit meinen Emotionen. Sind die Worte, die ich fühle, stark, schreibe ich auch mit kraftvollen Pinselstrichen. Sind die Worte, die ich empfinde, sanft oder freundlich, ich schreibe mit weichen Pinselstrichen.

Was inspiriert Sie neue Werke zu schaffen?

Ich bin immer auf der Suche nach Worten. Wann immer ich in einem Gespräch bin, Bücher oder Artikel im Internet lese oder fernsehe, ob auf Englisch oder Japanisch; wann immer ich auf etwas stoße, das mein Herz bewegt, denke ich, beim nächsten Mal werde ich mit diesen Worten eine Kimono-Kalligraphie kreieren!

Seit 2017 leben Sie in Berlin. Wie gefällt Ihnen die Kunstszene in Berlin?

Ich habe den Eindruck, dass viele Menschen hier die Kunst respektieren. Und ich glaube, dass in dieser Stadt Kunst, die der Welt noch nicht bekannt ist, wachsen und sich entwickeln kann. Ich bin stolz darauf, als Künstlerin in dieser Stadt zu arbeiten, und gleichzeitig bin ich sehr dankbar, hier zu sein.

Alle Fotos wurden von Yumiko Umeda zur Verfügung gestellt.
Mehr Bilder von ihren Werken finden sie auf ihrer Website: www.umefields.de