Erzählen Sie mir etwas über Ihren persönlichen Werdegang und Ihre Ausbildung. Wie sind Sie dahin gekommen, wo Sie heute sind?
1994 habe ich mein Studium als Textil-Designerin abgeschlossen. Niemand aus meinem Studiengang, einschließlich mir, hat später in diesem Beruf gearbeitet.
Professoren sprechen selten eine Empfehlung aus. Mir wurde allerdings vorgeschlagen, mich bei Missoni in Italien zu bewerben. Ich sollte eine persönliche Fürsprache erhalten.Ich entschied mich gegen Italien; warum, weiß ich erst heute: ich wollte als Freie Künstlerin arbeiten. Das galt es herauszufinden.
Einen Job als Designer zu finden dauerte damals im Schnitt ein Jahr. Also bemühte ich mich, für die Suche in Ortsnähe zunächst um einen Übergangsjob. Wie die Jungfrau zum Kinde kam ich dadurch zu einem Malerbetrieb. Ich erhielt den Meisterstatus mit einem Eintrag in der Handwerksrolle; einfach, weil ich nicht akzeptieren wollte, daß Akademiker/Designer/Künstler ja nur „Menschen mit schönen Ideen im Kopf sind“, während „Handwerker ja richtig arbeiten“. Eine Frau an entscheidender Stelle gab mir die Chance, mich zu bewähren.
Ein zweites Standbein kam dazu, denn ich arbeitete nebenbei als Dozentin für Floristik (meinem ersten Beruf). Damit war, wie ich zunächst vermutet hatte, kein wöchentlicher Treff floristisch interessierter Damen gemeint, sondern eine 5-tägige Unterrichtstätigkeit in der Erwachsenenbildung. Wieder setzte eine Frau auf mich, sie ist heute die Leiterin des Gründerinnen-Consult Hannover: wir einigten uns auf eine 3-tägige Arbeitszeit vor Ort, die restlichen 2 Tage bearbeiteten die Teilnehmer von mir gestellte Aufgaben. Dieser Job war für mich eine perfekte Herausforderung, weil ich die Ausbildungsinhalte nach einem vollkommen selbstbestimmten Konzept verwirklichen konnte. Jede Teilnehmerin bekam die Möglichkeit ihr eigenes kreatives Potential zu entdecken und frei zu entwickeln. Meiner Anregung folgend wurden die praktischen Prüfungsarbeiten nicht benotet, sondern fotografiert. Ein Bild sagt eben mehr aus als Noten, wenn es um Bewerbungen in einem kreativen Beruf geht.
Floristin,Textil-Designerin, Malermeisterin – alles Berufe, in denen es um die Gestaltung mit Farben, Formen und Strukturen in verschiedenen Dimensionen geht. Aber der Wunsch wieder im textilen Bereich zu arbeiten, begleitete mich hartnäckig. bis zu einem Cut in der zweiten Lebenshälfte: ich gab den Malerbetrieb auf und knüpfte wieder an die Fäden an, die mich mit dem Textilen verbinden. Ich arbeite sowohl mit Schülern als auch mit Erwachsenen in den Bereichen textiles und kreatives Gestalten. Dabei folge ich meist den Inspirationsmöglichkeiten des Up-cycling. Nebenbei habe ich begonnen, mir ein Atelier einzurichten. Hier kann ich freie textile Objekte anfertigen.
Im letzten Jahr dann hatte ich die Möglichkeit, hier in Berlin für einige Monate eine leerstehende Wohnung als Atelier zu benutzen. Dafür bin ich mit meinem ganzen „Equipment“, mehr als 130 Kartons mit meinen textilen Materialien, Handwerkszeug, einige Möbel, eben allem, was ich zum Arbeiten brauchte, hierher gezogen. Meine Zeit im Kreuzberger Kiez, in der ich nichts anderes zu tun hatte, als frei zu arbeiten, habe ich als ein riesiges Geschenk empfunden. Ich konnte rund um die Uhr einfach kreativ sein. Die Arbeit wurde nur durch schlafen, essen oder einen kleinen Einkaufsbummel unterbrochen. Ich war einfach im Flow, würde ich sagen. An meinem riesigen Werktisch habe ich immer gleichzeitig an mehreren Projekten gearbeitet. Da gab es die Arbeit an freien Objekten, meine Vorbereitungen für eine AG Textiles Gestalten an der Carl-von-Ossietzky-Schule in Kreuzberg und die spielerisch entspannende Entwicklung von Schmuckstücken aus Meeresfunden. Bei einem „Catwalk“ über die Bergmannstraße habe ich gleich die Resonanz auf die Schmuckstücke getestet. Das war eine spannende Erfahrung für mich und hat viel Spaß gemacht.
Was haben Sie in dieser AG mit den Jugendlichen gemacht?
Ich habe mir gut überlegt, wie ich arbeiten will. Dann habe ich das Rad praktisch neu erfunden. Ich wollte keine Bastelanleitungen irgendwo googeln, sondern ich habe einfach selbst Upcycling-Geschichten entwickelt. Einige wurden von AG-Mitgliedern in Eigenregie auf der TEXTILE ART BERLIN 2015 bei einer Mitmachaktion vorgestellt. Da gab es z.B. Freundschaftscolliers. Um sie herzustellen braucht man ein kurzärmeliges T-Shirt. Man schneidet den Arm ab und trennt dann die Seitennaht auf. So erhält man den ursprünglichen Ärmelschnitt. Nun wird der Stoff in Richtung Ärmelabschlussnaht komplett in Fransen geschnitten, die immer kurz vor der Naht enden. Nachdem die Fransen per Hand langgezogen sind, was je nach Muster und Qualität des Stoffes verschiedene Effekte ergibt, kann man das entstandene Collier durch den „Ärmelnahttunnel“ auf einen Reif fädeln. Dann kann man nach Belieben weiter dekorieren. Zum Beispiel Perlen auf die Fransen ziehen oder aufnähen, Federn, Strasssteine etc. einarbeiten oder mehrere Fransen- Lagen schichten usw. T-Shirts haben ja immer zwei Ärmel, also können zwei Freundinnen das gleiche Collier tragen als Zeichen ihrer Freundschaft. Wenn noch mehr Mädchen da sind, kann man den unteren Shirt-Saum auch noch nach dem gleichen Schnitt nutzen. Das haben wir gemacht und es hat viel Spaß gemacht, diese kleine Entwicklung von mir, die ganz begeistert angenommen wurde.
Als Abschluss meines Berlin-Aufenthaltes habe ich alle eingeladen, die ich während dieser Zeit kennengelernt hatte. Unter anderem Natacha Wolters, Pia Fischer und Mitglieder der Carl-von-Ossietzky-Schule. Bei dieser Gelegenheit habe ich Frau Wolters einige Exponate gezeigt. Sie war begeistert und schlug mir vor, sie auf der TEXTELE ART BERLIN auszustellen. Die Ausstellung ist dann tatsächlich zustande gekommen. Für mich waren es zwei herrliche Tage – wie ein großes Fest und ich war dabei. Besonders glücklich war ich darüber, daß die Resonanz auf die von mir vorgestellte Technik so groß war. Das war sehr beeindruckend für mich. 22 Jahre nach der Entdeckung zeige ich die Arbeiten das erste Mal in der Öffentlichkeit und die Idee wirkt immer noch ganz neu und aktuell.
Als Diplomarbeit hatte ich mir vorgenommen, in der Natur vorgefundene Strukturen wie z.B. Rinde in Form von Teppichoberflächen nachzuempfinden, also in der Natur vorgefundene Strukturen textil nachzuempfinden war mein Ziel. Dazu gab es eine Sammlung in einem kleinen Koffer, mit lauter kleinen Quadraten von Naturstrukturen, die ich aufgebracht hatte. Ich habe mir vorgestellt: die setze ich im Tuftingbereich um, also in der Herstellung von abgepassten handgearbeiteten Teppichen. Ich habe dann angefangen, zu experimentieren. Mich hat aber nichts wirklich zufrieden gestellt, es war einfach nicht ausdrucksstark genug. Aber dabei habe ich dann diese Technik erfunden. Die Diplomarbeit hieß dann: „Die Linie auf den Punkt gebracht – der Schnitt des Raumes als neue Perspektive“. Das erklärt auf mathematische Art und Weise die Technik. Ich habe einen Cut gemacht und diese neue Richtung verfolgt. Dazu entstanden dann ganz viele Entwürfe.
Es ist immer ein bisschen dazu gekommen, es hat immer ein bisschen in mir gearbeitet. Vor zwei/drei Jahren wurde es wieder aktueller, da habe ich wieder mehr gemacht. Es sind aber noch ganz viele Projekt in meinem Kopf, die nicht realisiert sind. Und ich habe mich jetzt aktuell entschlossen, nach der Textile Art Berlin einen Teil meiner Berufstätigkeit aufzugeben, um als freie Künstlerin zu arbeiten. Das schenke ich mir und ich freue mich sehr drauf. Es gibt schon ganz viele Ideen, die aufbauen auf all dem, was ich in diesen 22 Jahren gearbeitet habe. Das waren ja meist alte Werke, die ich da gezeigt habe, oder die in den Jahren gewachsen sind. Jetzt möchte ich meine aktuellen Vorstellungen in meinen Arbeiten verwirklichen.
Ich habe Verständnis dafür, dass sie niemandem Ihre Technik verraten wollen, aber ein paar Fragen darf ich vielleicht stellen? Sie nehmen hochflorige Stoffe, z.B. Samt?
Nein, ich nehme wirklich alles. Wenn wir jetzt einen blauen Sack mit Altkleidern hätten, würde ich mir etwas aussuchen, es kombinieren, aber grundsätzlich kann ich alles benutzen. Ich nehme auch Bänder, Spitzen, alte Strümpfe, Wollreste – das kommt alles da rein, wenn ich experimentiere.
Wie kommt es dann, dass die Stoffe der Schnittstelle so faserig sind?
Manche sind es, manche auch nicht. Das kann passieren, muss aber nicht. Ich mische einfach ganz wild, was vorkommt. Ich habe in diesen vielen Jahren auch ein Gefühl dafür entwickelt, was ich kombinieren möchte. Das Schöne an der Technik ist und was ich besonders liebe, ist, dass man nie weiß, wie es hinterher aussieht und deshalb wird sie mich auch ein Leben lang begleiten. Ich muss immer wieder neu entscheiden, was tue ich jetzt mit dem, was ich gerade entdeckt habe. Es gibt auch Arbeitsschritte, bei denen immer wieder etwas zerstört wird, immer wieder anders angeordnet wird – und irgendwann sage ich: jetzt bin ich fertig. Ich habe einfach angefangen, alles zu benutzen. Die Zeit des Recycling begann damals vor 22 Jahren und Recycling hat mich immer sehr interessiert. Dann gab es diesen Schnitt des Raumes und das war die neue Optik. Aber was immer ich dort erst zusammenfüge und dann schneide, das weiß ich vorher nie. Was die Besucher besonders interessiert hat, was sie auch sehr lustig oder spannend fanden oder was sie als gute Kombination empfanden, war die Idee die Arbeiten auf Holz aufzubringen. Was ja auch dieses Upcycling bzw. Recycling ein bisschen bedient. Da viele Arbeiten schon sehr bunt sind, hatte ich Lust da weiter zu schwelgen und die Kombination passt für mich einfach gut; diese bunten Werke noch auf farbig abgestimmten Obstkistenrücken zu präsentieren. Die Anmutung der Werke wird, für mein Gefühl, durch das bunt changierende Holz noch unterstrichen.
Ich bin gegen das Einsperren und das ist das Schöne, dass dieser Rahmen ein sehr offener Rahmen oder Hintergrund ist. Meine Arbeiten könnten so frei wirkend überall hängen, in der Karibik in einem Café oder ganz wo anders. Die Präsentation entspricht auch meiner Person, alles darf einfach auch ganz nah am Betrachter sein.
Und es gibt bestimmt auch viele Leute, die es gern anfassen möchten?
Viele haben es wirklich angefasst, denn sie waren unheimlich daran interessiert, wie es gemacht ist. Sie haben die Bilder umgedreht, sie haben die Arbeiten berührt, sie haben angefangen zu ziehen. Es war einfach so ein Hype, da konnte man gar nicht gegen ankommen.
Sie haben hier auch Guido Nosari kennen gelernt?
Ich finde wunderbar, dass Guido Nosari auch den Weg ins Textile gefunden hat – einen Zugang zu dieser ganzen weiblich dominierten Textilwelt. Wir werden ja sonst immer von der freien Kunst getrennt. Und wie unbedarft er mit Formen und Farben spielt, wo sich jede Frau reglementiert hätte, weil sie befürchtet hätte, es wird ihr vielleicht als Kitsch ausgelegt. Und ich fand sehr befreiend, dass er seine Arbeiten auch den Frauen auf der Textile Art Berlin präsentiert hat. Das ist eine unheimlich schöne Entwicklung. Ich könnte mir vorstellen, dass Männer und Frauen gemeinsam an textilen Projekten arbeiten.
Nachdem wir uns bei Natasha Wolters kennengelernt hatten, haben wir uns auf der Textile Art wiedergetroffen. Mit meinem eingerosteten Englisch – aber es ging irgendwie. Seine Arbeiten sind unheimlich vielfältig und überraschen immer wieder in ihrer Art, einzelne Facetten des Lebens zu beleuchten. Mal verspielt romantisch, ironisch, krass realistisch, religiös; er greift viele Themen in unterschiedlichsten Ausdrucksstilen und Formaten auf. Sehr spannend und bewegend. Ich habe ihm auch etwas abgekauft. Das kommt in mein Atelier und jeden Morgen, wenn ich es betrete sage ich: „Chiao Guido, heute arbeiten wir wieder“. Ich lebe ein bisschen isoliert als Künstlerin auf dem Land, wenn ich dann wieder nach Hause gehe und diese Resonanz nicht mehr da ist. Man muss sich als Frau die Zeit nehmen, aus dem ganzen Alltag wieder in die Arbeit zu gehen und zu sagen, das hat jetzt einen Raum, einen Platz, das ist mir wichtig, da arbeite ich jetzt. Das Schlimme ist ja, ich kenne es aus dem Studium, man braucht etliche Tage Arbeit am Stück, bis man wieder im Flow ist. Und das erst mal zu schaffen, so dass es dann von selbst weiter läuft, das ist ein Hindernis, das man immer wieder überwinden muss. Aber ich habe beschlossen, dies in Zukunft zu tun. Jeden Tag neu.
Hat der Stellenwert der Textilkunst auch damit zu tun, dass in diesem Bereich in erster Linie Frauen arbeiten?
Ein Semesterthema in Kunstgeschichte während meines Studiums war „Weiblichkeit in der Kunst oder die Frau in der Kunst“. Alle Frauen, die teilgenommen haben, sind unendlich hochgekocht. Man merkte sofort, da wird etwas berührt und der Prof. hat ganz provokant gefragt: „Wie ist eure Rolle, wie empfindet ihr euch, seht ihr euch gern vor der Staffelei, seht ihr euch gern als Künstlerin etwas präsentieren – oder seid ihr das?“ Ich habe 22 Jahre gebraucht, um zu sagen, ich bin jetzt soweit, es langsam sein zu können. Und ich glaube, das ist das, was die weibliche Textilkunst braucht. Und dann sind wir auf Augenhöhe mit jeglicher anderen Kunstrichtung. Ich möchte gar nicht viel mehr dazu sagen. Das ist etwas Inneres, eine Entscheidung, wieweit ermächtige ich mich? Wenn ich eine Vorsitzende des Fachverbandes Textil frage:„Kann ich als Textilkünstlerin meinen Lebensunterhalt verdienen ? Wieviele in Berlin können Deiner Einschätzung nach davon leben?“, ist die Antwort:“ Vielleicht zwei, die eine hat hier und die andere da Beziehungen – aber wir sind ja schon froh, wenn wir ausstellen dürfen.“ Dazu sage ich: „Nein, das allein macht mich nicht froh und auch nicht satt.“ Wenn ich mich von Anfang an so definiere, dann wird mein Weg wahrscheinlich auch so aussehen. Wenn das mein Fokus ist, dann habe ich meine Rolle doch selbst gewählt. Ich wäre früher auch froh gewesen und auch jetzt bin ich froh, auszustellen, es zu dürfen. Sicher, ich habe meine erste Ausstellung sehr genossen – aber meine Arbeit soll mich letztendlich auch ernähren, wie jeder andere Beruf es tun würde. Ich glaube, dazu muss man sich innerlich sortiert haben und wissen, wofür stehe ich als Frau, welche Aussage steht hinter meiner Arbeit? Und in der Kunst wird immer gefragt: wie ist die Intention des Künstlers? Ich habe gelernt, wenn ich die richtige, und das ist für mich eine authentische Intention habe, dann ist es Kunst, was ich mache. Vielleicht zunächst nur für mich allein, aber ich habe der Welt etwas zu sagen als Frau und als Künstlerin.
Vielen Dank für das Interview.