Buchbesprechungen

The Age of Undress

Auf den ersten Blick erscheint es widersprüchlich, wenn man sich an das Zeitalter der Napoleonischen Kriege erinnert und zugleich Bilder von elegant gekleideten Damen in leichten, fast durchsichtigen Kleidern aus Musselin vor Augen hat. Am 16. Oktober 1793 betrat Marie-Antoinette, die vormalige Königin von Frankreich und Modeikone ihrer Zeit, in einem schlichten, hellen Kleid die Guillotine. Knapp zwei Monate nach dem Tod Marie Antoinettes heiratete eine junge Prinzessin den preußischen Kronprinzen in Berlin. Ihr späterer Ruhm als „preußische Madonna“ und „Königin der Herzen“ würdigte gleichermaßen ihre patriotische Tapferkeit wie ihre engelsgleiche Schönheit, die in fließenden, Antiken Statuen nachempfunden Gewändern reizend zur Geltung kam. Königin Luise von Preußen wurde bewundert, verehrt und galt als eine Stilikone der Epoche des Empire.

Zurzeit von Luises Hochzeit war Joséphine de Beauharnais in Frankreich längst eine anerkannte Schönheit und Gesellschaftsdame, deren Leben bereits allerhand dramatische Wendungen genommen hatte. Die umschwärmte schöne Witwe gehörte zu jenen als Himmlische bezeichneten anmutigen Damen der Pariser Ball- und Salongesellschaften, deren Charme in der neuesten Mode im griechischen Stil so verführerisch wirkte. Joséphine, wie sie bald der verliebte Korse Napoleon nannte, verkörperte formvollendet den sinnlichen Geist dieser Epoche. Durch ihre 1796 mit Napoleon Bonaparte geschlossene Ehe standen ihr bald nahezu unbegrenzte Ressourcen zur Verfügung, um ihren feinen Geschmack und ihre ausgefallenen Wünsche umzusetzen.

Aus dem historischen Rückblick verwundert es, insbesondere angesichts der Entwicklungen im 19. Jahrhundert, wie körperbetont, ja erotisch, sich die Damen an der Spitze der Gesellschaft in ihren neuen Kleidern präsentierten. Für die zierliche Joséphine, die sich ihre Jugendlichkeit lange bewahren konnte, waren die fließenden, leichten Musselin Stoffe, die durchsichtigen Spitzen und eleganten Kaschmirschals wie geschaffen. Übrigens lassen sich die einst so Aufsehen erregenden Empirekleider in zahlreichen Verfilmungen der in dieser Zeit entstandenen Romane von Jane Austen bewundern.

Warum verbannten die schönen, reichen und kultivierten Damen die Reifröcke, Rüschen und Perücken aus ihren Ankleidezimmern? Warum bevorzugten sie leichte Baumwollstoffe anstatt Lyoner Seiden? Wer inspirierte sie? Warum kehrten letztlich die schnürenden Korsetts, ausladenden Röcke und tiefgeschossenen Dekolletés zurück?

Amelia Rauser, Professorin der Kunstgeschichte, beschäftigte sich in ihren Forschungen eingehend mit diesen Fragen, analysierte umfassend die überlieferten Quellen und studierte die Forschungsliteratur. Die Ergebnisse ihrer Arbeit präsentiert sie in ihrem reich illustrierten und gut verständlich in englischer Sprache verfassten Buch „The Age of Undress. Art, Fashion, and the Classical Ideal in the 1790s“, das im Frühjahr 2020 erschien. Im Zentrum ihrer Untersuchungen steht jenes „neoklassische“ Kleid, das einfach im Schnitt und aus leichtem Musselin gefertigt, Damen und Herren erfreute, Maler und Malerinnen inspirierte und ebenso Satiriker und Karikaturisten zu Spott und Hohn beflügelte.

Auf spannende Weise gelingt es Amelia Rauser die Inspirationen für die neuartige Kleidermode, die in so starkem Kontrast zu den bisher gültigen Normen stand, aufzuzeigen. Dabei nähert sie sich auf unterschiedlichen Ebenen, indem sie einerseits nach den führenden Damen sucht, die innovativ und einflussreich die Mode der 1790er Jahre prägten. Das sind insbesondere: Lady Hamilton in Neapel, Lady Charlotte Campbell in London und Théresa Tallien in Paris. Sie rekonstruiert ihre Lebensstationen und beleuchtet die sozio-kulturelle wie die politisch-gesellschaftliche Situation der Epoche und verfolgt ihre Reisewege ebenso wie die Publikationen und Illustrationen, die sich auf die eine oder andere Art mit ihrem Erscheinen befasst haben. Andererseits lenkt sie die Wahrnehmung auf Schnitt und Beschaffenheit des Kleides und konzentriert sich dabei auf fünf Elemente: Drapierung, Transparenz, Taillierung unter der Brust, weiße Farbe und Leichtigkeit des Stoffes.

Aufschlussreich gelingt es Amelia Rauser die kaleidoskopartige Verknüpfung von Kunst und Literatur, Politik und Ökonomie mit den durch die Aufklärung formulierten Ideen eines neuen Lebensentwurfs, der Frauen Perspektiven eröffnete und Hoffnungen weckte, aufzuzeigen. Indem der weibliche Körper durch die Kleidung sichtbar wurde, formulierte er künstlerische Ideale wie politische Ansprüche, die sich letztlich als unvereinbar mit den realen Verhältnissen erwiesen. So wie die Kunst für einen Augenblick der Geschichte zu Zeiten eines radikalen Umbruchs Realität wurde, nahmen sich Frauen die Freiheit, sich von Stoff und Schnitt gewordenen Zwängen zu lösen und in sinnlicher Leichtigkeit zu präsentieren. Die klugen Ausführungen und liebevoll arrangierten Abbildungen von Kleidern bis hin zu Details und Accessoires ebenso wie von zahlreichen Gemälden, Kupferstichen und zeitgenössischen Journalen machen diesen Band zu einem unverzichtbaren Werk der europäische Kulturgeschichte.

Amelia Rauser
The Age of Undress
Art, Fashion, and the Classical Ideal in the 1790s
Yale University Press
Englisch
ISBN: 9780300241204
216 Seiten
180 farbige Illustrationen
https://yalebooks.co.uk/display.asp?K=9780300241204