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Folklore & Avantgarde

Industrialisierung, Urbanisierung, Entfremdung, Identitätsverlust, Beschleunigung der Zeit – diesen Phänomenen der Moderne begegneten die Künstlerinnen und Künstler dieser Epoche mit philosophisch-künstlerischen Gegenentwürfen, die ebenso zu einer Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen führen sollten. Ein wesentliches Element wurde ihre Rückbesinnung auf das Handwerk, das nicht zuletzt zu einer angestrebten Verbindung von Natur und Kunst führen sollte. Zu diesem Zweck gingen viele von ihnen aufs Land, in die Dörfer und Landschaften, aus denen sie einst aufgebrochen waren, manche reisten in abgelegene, ferne Inselwelten und schwer erreichbare Regionen. Sie waren auf der Suche nach Inspiration und zugleich nach neuen Lebensperspektiven.

Dass diese geistige Auseinandersetzung mit den Bedingungen der Zeit von einer Faszination für die Volkskunst getragen wurde und dieser damit eine spannende Rolle bei der Entstehung der Moderne zukommt, hat die Krefelder Ausstellung „Folklore & Avantgarde“ im Winter 2019/20 in beeindruckender Weise durch eine Vielzahl von Kunstwerken gezeigt, die im Dialog mit Objekten der Volkskunstsammlung des Kunstmuseums standen. Der anlässlich der Ausstellung erschiene Katalog „FOLKLORE & AVANTGARDE. Die Rezeption volkstümlicher Traditionen im Zeitalter der Moderne“ bietet die Möglichkeit, diese Verknüpfung von moderner Kunst und volkstümlicher Tradition durch detaillierte, tiefgründige Betrachtungen nachzuvollziehen.

Ausstellungsmacher_innen und international führende Wissenschaftler_innen unterschiedlicher Fachgebiete, wie etwa Kunst-, Architektur-, Designgeschichte, Textilkunde und Architekturtheorie, haben die Entwicklung der neuen künstlerischen Sprache der Pioniere der Moderne betrachtet und im Kontext ihrer zeitgenössischen Auseinandersetzung analysiert. Was sich sehr lebhaft nicht allein in den abgebildeten Kunstwerken und Volkskunstobjekten, sondern auch auf Fotografien von Wohn- und Arbeitsräumen und Inszenierungen zeigt. All das, was Künstler_innen der Avantgarde, wie Josef Albers, Sonia Delaunay, Johannes Itten, Wassily Kandinsky, Ernst Ludwig Kirchner, Pablo Picasso, Charles Sheeler oder Sophie Taeuber-­Arp, vor Augen hatten, was sie berührt und untersucht haben, teilweise gesammelt und anderen gezeigt haben, was sie selbst inspirierte, wird hier grundlegend untersucht. Objekte aus dem Kunsthandwerk und der Volkskunst treffen auf Meisterwerke der Avantgarde – wobei dieser Dialog der Gegenständlichkeit teilweise ganz unerwartete Erzählstränge und Erzählweisen, Fortschreibungen und Interpretationen sichtbar werden lässt. Dieser Blick macht neugierig. Wie neu war das Neue? Wie alt war das Alte?

Obwohl Europa und Amerika im Mittelpunkt der Darstellungen stehen, verknüpfen die Verbindungen der Künstlerinnen und Künstler durch ihre Mobilität und ihre weitreichenden Vernetzungen untereinander, nahezu die ganze Welt. Im Fokus des Interesses stehen siebenunddreißig Künstlerinnen und Künstler sowie zwei Architekten, wobei sich zeigt, dass Paris ein wichtiger Knotenpunkt der Kommunikation war und als Hauptstadt der Moderne zahlreiche künstlerisch Suchende ebenso wie vor Verfolgung Fliehende anzog. Die Rezeption von afrikanischer, volkstümlicher und bäuerlicher Kunst sowie des textilen Kunsthandwerks wird anhand von insgesamt 350 Abbildungen veranschaulicht, die im Katalog in hervorragender Qualität abgedruckt sind.

Dass in der Textilkunst des frühen 20. Jahrhunderts insbesondere Frauen auf der Suche nach innovativen Herstellungsprozessen, Ausdrucksformen und Funktionen des Textilen in der Moderne waren, verwundert kaum. Die Gründe dafür waren vielfältig und sind nicht allein mit traditionellen Rollenmustern zu erklären. Durch ihre Werke und Schriften haben namhafte Wegbereiterinnen der Textilkunst, wie Sonia Delaunay, Sophie Taeuber-Arp und Anni Albers (S. 192 ff), die textile Kunst in die Diskurse der Moderne eingebracht. Insbesondere in der angewandten Kunst und im Design wuchs die Wertschätzung von Textilen, der Volkskunst und der Kunst außerwestlicher Kulturen, wie Virginia Gardner Troy, Professorin für Kunstgeschichte am Berry College, Georgia, ausführt. Textile Techniken, die zu dieser Zeit als Frauenarbeit galten, haben basierend auf den technischen Herstellungsprozessen der Verkreuzung vertikaler Kett- und horizontaler Schussfäden wesentlichen Anteil an einer neuen, abstrakt-geometrischen Formensprache, die letztendlich auch eine gattungsübergreifende Zusammenarbeit begründete. Zudem war es äußerst reizvoll, gerade Textilkunst, die durch ihren Gebrauchswert, ihre an das menschliche Leben seit Jahrhunderten gebundene Funktion sowie ihren Ausdruckswert in Kunst und Handwerk in einer Weiterentwicklung ins Industriezeitalter zu führen.

Spannend, eindrucksvoll und überaus unerwartet erweisen sich die Beziehungen zwischen den Kunstwerken der Moderne und der Auseinandersetzung ihrer Schöpfer_innen mit Objekten der Volkskunst aus den unterschiedlichsten Epochen, Ländern und Regionen. Wie vielgestaltig sich Folklore – ein Begriff, der 1846 von dem englischen Kulturhistoriker William John Thoms geprägt wurde-, als ein Phänomen des modernen Zeitalters erweist, vermittelt dieser Katalog auf höchst anregende Weise.

FOLKLORE & AVANTGARDE
Hg. Katia Baudin, Elina Knorpp
Beiträge von W. Kaschuba, G. Breuer, M. Holzhey, P. N’Guessan-Béchié, M. Jongbloed, E. Näslund, V. Gardner Troy, C. Kallieris, Á. Moravánszky, B. Knorpp, K. Baudin, E. Knorpp u. a.
328 Seiten, 350 Abbildungen in Farbe
Verlag HIRMER
ISBN: 978-3-7774-3383-7